Gala für die Korrekturmeister

Weniger Todesurteile, höhere Bauerneinkommen, Aids wird endlich auch bekämpft – Chinas Volkskongress feiert die erste Bilanz der Ära Hu & Wen

AUS PEKING GEORG BLUME

Es gibt sie auch im diktatorischen China: Abgeordnete mit Gewissen und Mut. Zu ihnen zählt Rechtsprofessor Chen Zhonglin von der Südwest-Universität in Sichuan. Im vergangenen März legte der 54-jährige schnauzbärtige Delegierte des Nationalen Volkskongresses dem KP-kontrollierten Scheinparlament der Volksrepublik einen Antrag vor, der die Revision jedes in China gesprochenen Todesurteils vor dem Obersten Gericht in Peking forderte. Chen glaubte, dadurch den willkürlichen Gebrauch der Todesstrafe einschränken zu können.

Und er ging noch einen Schritt weiter: Er bezifferte die Zahl der jährlich in China ausgesprochenen Todesurteile öffentlich auf annähernd 10.000. Er riskierte Job und Karriere, denn er gab eines der bis dahin streng gehütetsten und erschreckendsten Staatsgeheimnisse seines Landes preis. Die Strafe folgte prompt: Die Partei untersagte ihm weitere öffentliche Äußerungen, den staatlich kontrollierten Medien wurde Schweigen verordnet. Doch siehe da: Morgen, zur Eröffnung des diesjährigen Volkskongresses, kehrt der mutige Abgeordnete erhobenen Hauptes nach Peking zurück.

In seiner Aktentasche hat er die schriftliche Genehmigung seines Antrages durch das Oberste Gericht. „Ich bin zufrieden“, sagt Chen, der nun auch seine öffentliche Stimme wiedergefunden hat. „Die Zahl der Todesurteile ist im vorigen Jahr deutlich gesunken, und voraussichtlich noch in diesem Jahr wird das Oberste Gericht auf die Praxis umstellen, jedes Todesurteil einzeln zu überprüfen. Das wird die Zahl der Urteile auf Dauer begrenzen.“

Chens Geschichte aber ist zu schön, um nicht doch noch einen Haken zu haben. China mag zwar aufgrund der Straffung des Justizwesens viele Exekutionen einsparen, die früher durchgegangen wären – Chens Informationen werden von anderen Rechtsexperten bestätigt. Dennoch werden Tausende weiterhin den Henkertod sterben, mehr als in jedem anderen Land. Denn auch die Reform der Todesstrafenpraxis fügt sich in den großen Rahmen der neuen Pekinger Politik: Wachsamkeit, Problembewusstsein und Pragmatismus sind die Maximen der seit zweieinhalb Jahren regierenden KP-Führung um Parteichef Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao. Das bedeutet, die Probleme schnell zu erkennen, ihre Sprengkraft genau auszuloten, um dann alles zu tun, sie so zu kontrollieren, dass es dem kommunistischen Ein-Parteien-System nützt, statt es zu verändern. Hu und Wen fahren damit bislang nicht schlecht. Mit ihrem arbeitsaufwändigen, aber unprätentiösen Regierungsstil sind sie der Welt kaum aufgefallen und der eigenen Bevölkerung nur selten Stein des Anstoßes. Aus ihrer Sicht markiert der Volkskongress, der morgen beginnt, das Ende der ersten Halbzeit zwischen den in China alle fünf Jahre tagenden Parteikongressen. Und sie können sich sagen: Job erledigt.

Experimente mit einer humanen Strafpraxis waren in dieser Zeit genauso wenig gefragt wie parteiinterne Ansinnen auf demokratische Reformen. 25 Jahre durchgehender Wirtschaftsboom und 15 Jahre ohne größere politische Krise laden nicht zu grundsätzlichen Kurskorrekturen ein. Sehr wohl erwünscht aber sind unter Hu und Wen Fehlerkorrekturen am herrschenden System. So nahmen etwa die Exekutionen überhand. In der Südwestprovinz Yunnan wurden zu hunderten Drogendealer hingerichtet – doch der Drogenhandel nahm weiter zu. In solchen Fällen reagiert Peking heute zwar schneller als früher, weil die Führung noch unverbraucht ist, es geht ihr um eine erfolgreiche Linderung von Symptomen.

Ein Beispiel dafür ist auch die Aids-Bekämpfung. Unter Vorgänger Jiang Zemin galt Aids als Ausländerkrankheit und wurde verschwiegen. Hu und Wen erkannten, welche Zeitbombe da tickte, und starteten groß angelegte Aufklärungskampagnen. Jedes Schulkind bekommt nun Aids-Unterricht, Kondome werden in Rotlichtvierteln gratis verteilt. Nicht minder schwer wog, dass unter den Vorgängern die Einkommen von 800 Millionen Landbewohnern seit Jahren kaum mehr angestiegen waren. Gleichzeitig explodierten die Gehälter in den Städten. Weshalb Hu und Wen heute der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit Steuern erlassen und neue Subventionen verschaffen. Die Getreidepreise ließen sie freigeben. Seitdem steigen die Bauerneinkommen wieder. Mit der Bauernfrage eng verknüpft ist das größte aller Probleme im Ein-Parteien-Staat: die Korruption. Alle Versuche, dem armen Bauernvolk zu helfen, scheiterten bislang an der Selbstbereicherung örtlicher Parteikader. Jetzt versuchen Hu und Wen mit einem stärkeren Landpachtvertragsrecht, der Bekanntmachung aller öffentlichen Bilanzen sowie mehr zentralstaatlicher Aufsicht gegen die Korruption anzukämpfen.

Nur eines wollen sie nicht: den Chinesen mehr Rechte und Demokratie geben. Entsprechend wird der Volkskongress verlaufen – als eine einzige, linientreue Parteishow. Ihr Hauptmotiv: Ein Anti-Abspaltungs-Gesetz soll die Entscheidung über einen Militärschlag gegen Taiwan vom Volkskongress an die Regierung übertragen. Das Gesetz ist rein symbolischer Natur, das Politbüro würde einen Kriegsbeschluss immer allein treffen. Doch schmückt das Taiwan- Gesetz Hus Aufstieg an die Spitze der staatlichen Militärkommission. Er übernimmt damit auch das letzte offizielle Amt von Jiang Zemin. Den Chinesen verspricht das alles einen gewaltigen patriotischen Propagandasegen. Querdenker wie der Abgeordnete Chen Zhonglin können eben nur an den Feineinstellungen im gigantischen Triebwerk der Partei etwas ändern.