„Ein Gefühl des Verlorenseins“

Als die Alliierten kamen, waren die Kölner froh über die Befreiung – aber nicht immer über die Besatzer. taz-Serie Teil IV (und Schluss): Kriegsende in Köln

VON MARTIN RÜTHER

„Herr Becker meint, bis Ende des Jahres sei der Krieg aus“, schrieb die 21-jährige Anneliese H. im August 1944 ihrem Bräutigam an die Front. Sie könne sich „an solche Worte förmlich klammern“, fuhr sie fort, was umso verständlicher war, als die jungen Leute beabsichtigten, Ende 1944 zu heiraten. „Vielleicht fällt unsere Hochzeit schon in den Frieden!“

Der Wunsch erfüllte sich nicht; vielmehr standen den Kölnern noch harte Monate bevor. Im Oktober 1944 traf eine Angriffserie der alliierten Bomber die Stadt mit voller Wucht. „Zustände wie im 30-jährigen Krieg“, notierte die 18-jährige Eva S. am 29. Oktober in ihr Tagebuch, „und dieses entsetzliche Gefühl des Verlorenseins, eines haltlosen Strohhalms, es kann einen noch umbringen.“ Immer mehr Einwohner verließen die „Stadt des Grauens“, wie der Schweizer Generalkonsul, Franz-Rudolph von Weiss, Köln nun nannte, das im Dezember nur noch etwa 160.000, Ende Februar 1945 etwa 85.000 Einwohner zählte.

Die Verbliebenen, so hatte von Weiss schon im Juli 1944 berichtet, warteten „vollkommen apathisch“ die weitere Entwicklung „geduldig“ ab. Dabei dominierte eine Mischung aus Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende und Furcht vor der Rache jener, denen Unrecht zugefügt worden war. Die NS-Schergen wüteten immer enthemmter, mordeten und versuchten mit allen Mitteln, die Kölner zur Verteidigung ihrer Stadt zu mobilisieren. Im Oktober 1944 wurde der „Volkssturm“ aufgestellt, eine offiziell beeindruckende Truppe von 12.000 Mann allein in Köln, tatsächlich jedoch ein kümmerlicher Haufen meist alter Männer, die weder ausgebildet noch ausreichend bewaffnet waren.

Der zum Befehlshaber einer Volkssturmeinheit ernannte Polizist Otto G. schildert die skurrile Situation – sein Bataillon zählte Anfang März 1945 statt 600 lediglich neun Mann – mit kölschem Humor: „Als wir die Gewehre näher ansehen, erkennen wir fehlerhafte Beutewaffen aus den ersten Kriegsjahren, wozu die deutsche Munition nicht passt. Mit Handgranaten oder Panzerfäusten kann niemand umgehen. Wozu das alles? Dazu sagt jemand: Jetzt weiß ich, was Wunderwaffen sind, damit wir uns wundern sollen, was wir mit dem Zeug anfangen können!“

So ausgerüstete Einheiten sollten Köln verteidigen, das Ende September 1944 zur „Festung“ erklärt worden war und dessen „Rundumverteidigung“ Gauleiter Josef Grohé am 9. Oktober angeordnet hatte. Der Gauleiter schätzte die Bevölkerung, die laut von Weiss die „terroristische Monopolgewalt“ der NSDAP „durch den völligen Mangel an Zivilcourage beinahe sanktionierte“, nach wie vor loyal ein. Im Dezember 1944 meldete er Berlin, „dass das Kölner Volk sich fabelhaft halte und eine Moral zur Schau trage, die nur bewundert werden könne“.

Am 28. Februar 1945 rief Grohé „alle wehr- und arbeitsfähigen“ Männer auf, „mit der Waffe in der Hand“ zu kämpfen. Am 2. März sollten sämtliche Kinder, Frauen und Greise evakuiert werden, doch dieses Vorhaben wurde durch einen erneuten Bombenangriff auf Köln zunichte gemacht: Die Bomben fielen auf eine endlose Trümmerwüste, die aber weiterhin verteidigt werden sollte.

Die Durchhalteparolen der NS-Führung verpufften jedoch, und Stadtkommandant Oberst de la Choux lehnte die von Grohé angeordnete Taktik der „verbrannten Erde“ ab. Eine kampflose Übergabe der Stadt stand aber nach wie vor nicht zur Diskussion, auch die Kontroll- und Exekutivgewalt der lokalen NS-Funktionäre wurde nicht beeinträchtigt. „Volkssturm geht über die Militärringstraße in die Schlacht“, notierte noch am 4. März 1945 Hans D. „Ein Bild des Jammers.“

Während sich alte Männer völlig chancenlos den Amerikanern entgegenstellten, begannen Teile der Bevölkerung, in einer Art Endzeitstimmung zu plündern. Schon seit Oktober 1944 kursierte in Köln das Motto „Genieße den Krieg, denn das Ende wird schrecklich“; nun skandierten jene, die sich zum Beispiel im Fort V reichlich mit Alkohol eingedeckt hatten: „Lasst uns noch einen auf den Sieg trinken!“. „Die Leute sind wie ausgelassen“, beobachtete Hans D. ein Phänomen, das wohl dazu diente, durch NS-Propaganda geschürte Ängste zu verdrängen: „Die Leute sind sehr ängstlich und wollen flüchten. Ja, die Amerikaner lassen uns ja verhungern.“

Diese Absicht hatten jene keineswegs. Im Gegenteil. Als ihm in der Nacht vom 5. auf den 6. März 1945 auf der Dürener Straße ein betagter Vorposten des Volkssturms entgegenkam, forderte – so der Bericht von Otto G. – der US-Kampfverband ihn mit der Bemerkung „Opa zurück!“ zur Umkehr auf; nicht ohne ihm zuvor für Frau und Kinder Schokolade und die Nachricht mitzugeben, „amerikanische Soldaten kämpften nur gegen die deutsche Wehrmacht“.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die meisten der desolaten Kölner Volkssturmverbände bereits aufgelöst. Als General Köchling am Nachmittag des 5. März Stellungen im Grüngürtel inspizieren wollte, fand er außer herrenlos herumliegenden Panzerfäusten nichts mehr vor. Und als Gauleiter Grohé im Befehlsstand der Wehrmacht erschien, um die „unbedingte Verteidigung“ Kölns einzufordern und hierfür zwei Volkssturmbataillone mit 1.200 Mann versprach, trafen am Abend gerade einmal 60 armselige Gestalten ein.

Köchling lehnte unter Hinweis auf die völlige Unzulänglichkeit der von Grohé hoch gelobten „politischen Eliteverbände“ dessen Ansinnen ab, woraufhin der höchste Repräsentant der NSDAP nicht nur den Bunker, sondern einige Stunden später auch das linksrheinische Köln verließ. Dieses Verhalten und die Tatsache, dass Köln schließlich „in einer Stunde kapitulierte“, versetzten Joseph Goebbels noch Wochen später in Rage. Grohé habe, so schrieb er am 4. April 1945, „trotz pompösester Ankündigung seinen Gau nicht verteidigt“, sondern ihn verlassen, „bevor die Zivilbevölkerung abgeführt war“.

Nun waren sie also da, die von vielen sehnlichst erwarteten, von anderen gefürchteten Befreier und Besatzer. Hans D. fasste nach einem ersten Kontakt mit den „zurückhaltend und korrekt“ auftretenden amerikanischen Verbänden am 5. März seine Gefühle so zusammen: „Wir freuen uns, dass für uns der Krieg aus ist und sind traurig, dass die Fremden da sind.“

Man versuchte sich in der ungewohnten Situation der Bomben-, aber auch der Meinungsfreiheit zu orientieren. Mit Interesse beobachtete der zwei Wochen zuvor mit den US-Truppen nach Köln zurückgekehrte Sozialist Werner Hansen Ende März 1945, „wie die Menschen reagieren, wenn sie angesprochen werden“. „Bei vielen bricht es heraus wie ein Strom, sie schreien fast, und es ist schwer aufzufassen, was sie sagen wollen. Aber das ist vielleicht auch nicht so wichtig. Dass sie so aufschreien und alles aus sich heraussprudeln lassen dürfen, scheint ihnen schon eine gewisse Erlösung zu sein.“

Gleichzeitig arbeitete die Bevölkerung bereits an Entlastungsstrategien. Hans D. etwa warf den Amerikanern vor, sie würden nicht erkennen, „dass das deutsche Volk in seiner überwiegenden Mehrheit innerlich Gegner des Systems“ gewesen sei, „die Verbrechen der Nazis sowie den ganzen Krieg verurteilt“ und die Alliierten „als Befreier erwartet“ habe. Auch der Kölner Arzt Wolfgang M. warf ihnen im April 1945 vor, dass sie die „verschwindend kleine Verbrecher-Clique und ihre Folterknechte“ mit dem „weitaus größten Teil des anständigen deutschen Volkes“ in einen Topf werfen würden.

Das Kriegsende am 8. Mai 1945 stellte für ihn einen Sieg dar über jene „3 Millionen, die durch unmenschlichen Terror als kleine Minderheit die anderen 57 Millionen Deutsche in Banden und Fesseln schlugen“ und „sie in den Krieg zwangen“. Nichts von Eigenverantwortung oder gar von etwaiger Mitschuld. Andererseits verschwieg der Arzt nicht die Opfer, die das NS-Regime weltweit gefordert hatten, Opfer, „wie sie in der Geschichte der Menschheit noch nie da gewesen sind und hoffentlich auch nicht wiederkommen werden“.

Schließlich appellierte er an das deutsche Volk, den unbedingten „Kampf um die Wahrheit“ an- und aufzunehmen. „Erst wenn es sich zur Wahrhaftigkeit durchgerungen, erst wenn es die Fesseln der Lüge, in denen es seit Aufkommen der braunen Pest gelegen hat, mit eigner Kraft gesprengt haben und sich auch innerlich von den Irrlehren der nationalsozialistischen Ideologie losgelöst haben wird, kann es daran denken, durch seinen Geist und seine Taten die Freiheit wieder zu erlangen, die ihm für lange Zeit verweigert werden wird.“

Der so angemahnte Weg zur Wahrheitsfindung sollte ein unerwartet langer werden. Zunächst wurde aufgebaut und verdrängt. Erst Ende der 1960er Jahre zeichnete sich ein Wandel ab, konnte die Täterrolle nach und nach akzeptiert und auch entsprechende Verantwortung übernommen werden. Heute deutet sich eine erneute Wendung in diesem Täter- und Opferdiskurs an. Man darf gespannt sein, welche Richtung die Diskussion gerade angesichts des nahenden Jahrestages der Befreiung nehmen wird.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am NS-Dokumentationszentrum. Von ihm erscheint in Kürze eine ausführliche Darstellung und Quellensammlung zur Geschichte des Bombenkrieges in Köln. Die Ausstellung „Zwischen den Fronten. Kölner Kriegserfahrungen 1939-1945“ im EL-DE-Haus geht vom 8. März bis 20. November 2005