Ganz neue Schule in alten Mauern

Das Schulzentrum Koblenzer Straße war nach Pisa ganz unten – und organisiert seitdem eine pädagogische Revolution. „Wir haben richtig Spaß an der Geschichte“, sagt eine Lehrerin, die „30 Jahre im alten Trott“ hinter sich gelassen hat

Von außen sieht die Schule Koblenzer Straße aus wie die meisten der tristen Beton-Schulen aus den 70-er Jahren. Aber innen hat eine Revolution begonnen. Kernstück des Veränderungsprozesses: LehrerInnen arbeiten im Team. „Wir haben es geschafft, aus dem alten Trott herauszukommen“, sagt Lehrerin Barbara Klein, „und es funktioniert“.

Rein theoretisch wussten alle, dass Schule auch anders funktionieren kann, gelesen hatten sie alle mal einen der zahlreichen Artikel. Aber das hatte wenig geändert. „In den Fünf-Minuten-Pausen im Lehrerzimmer redet man meistens darüber, wie doof und schwierig die Schüler sind“ gesteht eine Kollegin von der Koblenzer Straße. „Das deprimiert einen am Ende selbst.“ Und die Koblenzer Straße, mitten im Hochhausgebiet in der Vahr, hatte allen Grund für Depressionen. Die Pisa-Ergebnisse für die Schule waren offenbar erschütternd. Veröffentlicht wurde das nie, damit die Kinder aus „bildungsnahen Familien“ das Schulzentrum nicht noch stärker meiden. Aber intern war einigen klar: Es musste etwas passieren.

Um ihr schönes, neues Modell auch dem Bildungssenator zu erklären, hatte Schulleiter Gerd Menkens diese Woche Willi Lemke eingeladen. Entscheidend für den „Ruck“, der vor zwei Jahren durch die Schule ging, war der Besuch in Kassel bei der „Offenen Schule Waldau“ gewesen. „Viele wären am liebsten gleich da geblieben“, schwärmt die stellvertretende Schulleiterin Philine Tempelmann noch heute. Eine tolle Schule mit tollen Pisa-Ergebnissen – mitten in einem Problemgebiet wie es auch die Vahr ist. „Überschaubarkeit und Verlässlichkeit sind für uns wichtige pädagogische Prinzipien“, heißt es harmlos in der Selbstdarstellung der Schule (www.osw-online.de). Diese Worte haben große Folgen, wenn sie ernst genommen werden: Die riesigen unüberschaubaren Schulgebäude sind Gift. Nach Kasseler Vorbild wird der Betonbau Koblenzer Straße bei der Renovierung in kleine überschaubare Bereiche aufgeteilt. Die drei fünften Klassen, für die das neue Konzept schon begonnen hat, sind auf einem Flurstück durch Zwischentüren abgetrennt von dem Rest. Mitten in dem Klassentrakt: das Lehrerzimmer des Teams. Neun LehrerInnen haben da ihren Schreibtisch, ein heller Raum, in dem man gern auch nachmittags arbeitet. Und die Lehrer sind immer bei ihren Schülern. Jeder kennt jeden – Verlässlichkeit ist nur so machbar.

Die Klassenzimmer spiegeln den neuen Geist. Keine Wand ist weiß, da hängen Arbeitsergebnisse, die Stundentafel, Mitteilungen. Eine Wand ist mit einem dicken Filzteppich beschichtet – ein permanentes schwarzes Brett. Es ist wichtig, dass die Kinder hier ihre Lernergebnisse dokumentieren können, sagt der Klassenlehrer. Rituale werden eingeübt. Wenn ein Lehrer den linken Arm hebt und den Zeigefinger der rechten Hand auf den Mund legt, heißt das: „Ruhe“. Bei allen Lehrern. Nach sechs Monaten wissen die Kinder der 5-ten, dass das verbindlich ist, es wird Teil des normalen Alltags.

Wenn ein Kind das Ruhezeichen „STOPP“ nicht befolgt oder sonst „stört“, wird nicht gebrüllt, sondern allen ist klar: Es geht ab in den „Trainingsraum“. Dort sitzt ein Lehrer oder Sozialarbeiter und nimmt den Fall ernst. Spricht mit ihm. Jeder Schüler hat Verhaltensregeln gelernt und unterschrieben, es wird im „Trainingsraum“ besprochen, gegen welche der Regeln der Schüler verstoßen hat. Der Schüler schreibt einen Bericht über sein Verhalten. Mit dem „Protokoll“ kann er zurück in die Klasse gehen. Der Verhaltenskodex ist einheitlich für alle, auch für alle Lehrer.

Auch die Eltern müssen einen „Kontrakt“ unterschreiben, wenn sie ihr Kind in der Reformschule anmelden wollen. Da steht zum Beispiel drin, dass Klassenfahrten verbindlich sind. Auch für türkische Mädchen. Wer sechsmal im „Trainingsraum“ war, muss seine Eltern mit in die Schule bringen. Da wird der Vertrag auf den Tisch gelegt. In der 5. Klasse gibt es Hausbesuche, die Zusammenarbeit mit den Eltern ist ein Bestandteil des Konzeptes „Verbindlichkeit“.

Die Schule beginnt jeden Tag mit 45 Minuten „Offenem Anfang“, da ist Zeit für Gespräche mit der Lehrerin. Dann kommen 45 Minuten „Morgenkreis“ zum erlernen von Gesprächsformen und zur Vorstellung von erarbeiteten Themen. Die letzte Stunde am Freitag heißt „Klassenrat“. Konflikte der Woche werden da besprochen. Auf einem Zettel kann jeder in der Woche Themen auf die Tagesordnung dieser Stunde setzen. Kurz: man nimmt sich ernst, man nimmt sich Zeit für die Kommunikation – Ganztagsschule sei dank – und das merken die Kinder. Den allermeisten sind die Regeln nach sechs Monaten in Fleisch und Blut übergegangen. Klar, dass es Stunden für „Freies Lernen“ gibt. Nutzung außerschulischer Lernorte. Fächerübergreifende Themen, Projekte. Ein Kasseler Lehrer erzählt von dem Projekt „Lesewettbewerb“. Zwischen dem 9-ten und dem 15-ten Lebensjahr entscheidet sich, ob ein junger Mensch „Lesen“ lernt als normale Freizeitbeschäftigung. Der Trick: Das Lesen wird wie die Bundesliga organisiert. Jeder kann lesen, was er will – wie viel, das ist die Frage. Über Wochen. Es gibt Tests darüber, wie viel die Kinder verstanden und behalten haben. Es gibt auch Preise für Lernerfolge beim schnell Lesen lernen. Da kann es am Ende eines Wettbewerbs passieren, dass man in die Klasse kommt und 30 Neunjährige sitzen still da über ihren Büchern, erzählt der Lehrer. Seine Schüler haben 700 Seiten in sechs Wochen geschafft – für die Goldmedaille und auch für den Lehrer.

Die Schule will alle SchülerInnen ernst nehmen. Jeder, der eine „5“ hat, bekommt Nachhilfe. Auch das ist verbindlich, ein Kernstück der Ganztagsschule. Studenten kommen nachmittags, viele Ehemalige darunter. „Arbeit im Team“ ist das Zauberwort. Lehrer tauschen sich über Inhalte aus, über Schüler, entwickeln gemeinsam Projekte. „Zeitmanagement“ ist der Schlüssel. Gemeinsame Arbeit kann man nicht in der 5-Minuten-Pause organisieren. Die Lehrkräfte nehmen sich Zeit, untereinander zu reden – um 13.15 strömt nicht alles raus. „Dafür haben wir mehr Spaß an der Geschichte“, sagt Lehrerin Anne Wichitill. „30 Jahre im alten Trott“ hat sie hinter sich gelassen. Warum wollen andere Lehrer es nicht genauso machen? „Sie glauben es nicht. Sie sind neidisch auf unsere Lehrerzimmer, nicht auf die Arbeitszeiten.“ In der Koblenzer Straße gibt es alles: Schwarze, Türken, Russlanddeutsche, alle Nationalitäten. In der bilingualen Klasse „5 rs“, die der Bildungssenator besucht, hat über ein Drittel „Islamkunde“ gewählt, einige „Philosophie“, der Rest Biblische Geschichte. In der Kasseler Gesamtschule wird das anders gemacht: Religionskunde ist ein Gemeinschaftsfach, für alle. Die Kasseler fördern nicht nur die Benachteiligten, berichtet Schulleiter Achim Albrecht: Es gibt auch Hochbegabtenförderung. Ein solider Anteil von Gymnasial-Kindern ist wichtig für den Ruf der Schule, und wegen ihres guten Rufes wird die Schule aus einem weiten Umkreis gezielt angewählt.

„Man muss sich einen Namen schaffen“, sagt der Kasseler Schulleiter, damit die Eltern ihre Kinder gern der Schule anvertrauen. Er hat inzwischen doppelt so viele Anmeldungen wie Plätze. Willi Lemke hört das gern. Konkurrenz spornt an, das hat er immer gesagt. Und lobt das Engagement. Nur eines kann er denen in der Koblenzer Straße nicht versprechen: Mehr Geld. Wenn die Schule irgendwann einmal nicht nur Modell- und Ganztagsschule sein will, sondern auch Gesamtschule, dann kommt es zum Schwur. Selbst ihr „Erweckungserlebnis“ in Kassel verdanken die Lehrer der Robert Bosch Stiftung: Die Bremer Bildungsbehörde hat den Lehrern nicht einmal den Austausch mit ihrer Modellschule in Kassel finanziert. Klaus Wolschner