Ist die Visa-Debatte überhitzt?

nein
Überhitzt? Wer reagiert überhitzt auf die Visa-Affäre? Gut, die Opposition fordert schäumend Joschka Fischers Rücktritt. Was soll sie sonst tun? Immerhin hat der Außenminister Kriminellen zwei Jahre lang die Visastempel überlassen. Und die Idee eines weltoffenen Landes beschädigt. Dafür geht es bislang gesittet zu.

Gerade von Intellektuellen, Bürgerrechtlern und Repräsentanten einer zivilen Gesellschaft wäre mehr Erregung zu erwarten. Die neuen Ersatzpässe, die Innen- und Außenminister an ihren Visa-Basteltischen ausgeheckt haben, fielen ab 2001 direkt in die Hand von Schleuserbanden. Das ist ohne Beispiel. Dürfen etwa Kleinkriminelle in Bus und Bahn die Fahrgäste kontrollieren? Sollten Straßenganoven Knöllchen ausstellen und Radarkontrollen vornehmen dürfen? Eben. Daher wollen die BürgerInnen und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wissen, was Diplomaten und Schleuser verband.

Nicht so Fischers selbst ernannte Starverteidiger. Kritische Fragen an den Außenminister gelten als Majestätsbeleidigung. Grüne heben neuerdings die Stimme, um Anführungszeichen hörbar zu machen, wenn sie von der „so genannten Visa-Affäre“ sprechen. Gerade so, als sei nichts geschehen. Dabei hat ihr Guru längst jene Fehler – leichter, zu lange geduldeter Visamissbrauch – eingestanden, die seine Parteifreunde als „Kampagne“ brandmarken oder faktenblind wegerklären wollen.

Die jüngste Volte ist die maliziöse Frage, welcher Schaden entstanden sei. Das ist neu. Bislang traten die Großtheoretiker der gerechten Gesellschaft eher ideologiekritisch auf. Nun schlüpfen sie in die Rolle penibler Schadenssachbearbeiter und beginnen zu zählen – Schwarzarbeiter, Kriminelle und „so genannte Zwangsprostituierte“.

Der Visa-Skandal hat maximalen politischen, moralischen und menschlichen Schaden angerichtet – bei Joschka Fischer, bei den Grünen, vor allem aber bei jeder einzelnen betroffenen Frau. Was Fischer und seine Botschaften, gerade die in Kiew, ermöglichten, war kein Kavaliersdelikt. Zwangsprostituierte entsteigen nicht der Hölle und fallen nicht vom Himmel – sie werden von Menschen dazu gemacht. Fischers Visarecht hat quasilegale Schleusungen im großen Stil erst zugelassen. Das erleichterte es Schleuserringen und Menschenhändlern, ihrem schmutzigen Geschäft umso bequemer nachgehen zu können. Keine Frau musste in der Ukraine bedroht werden. Die organisierten Kriminellen konnten Ausreisedokumente wie den Reiseschutzpass selbst ausstellen – ohne Kontrollen. Eine perfekte Legende, um schlecht verdienende Lehrerinnen und vom goldenen Westen träumende Frauen in die Falle zu locken. Erst fernab der Heimat wurden viele Frauen gezwungen, ihre Körper auszuliefern. Auch das ist es, was den politischen Kredit Joschka Fischers belastet. Zu Recht.

Darüber aber darf in Anwesenheit von Grünen nicht geredet werden. Stattdessen wird eine zynische Schadensstatistik aufgemacht. Es gebe keine Zunahme der einschlägigen Delikte, etwa der Prostitution. Ein giftiges Argument. In Prozessen wurde und wird gerade gezeigt, dass Schleusung und Zwangsprostitution keine Hirngespinste von Fischer-Jägern sind. Und woher kommt eigentlich das Vertrauen in die amtliche Statistik? Linke Virtuosen der Dunkelziffer, die etwa Arbeitslosenstatistiken grundsätzlich nicht gelten lassen, verklären nun die Kriminalstatistik zum naturgetreuen Abbild der Wirklichkeit. Dabei muss gelten: Wenn nur eine einzige Frau wegen der Visapraxis gegen ihren Willen in einem Bordell landete, dann ist das eine zu viel.

Die Fischer-Verteidiger beschuldigen die Ankläger von der Union gern der maßlosen Übertreibung. Da haben sie Recht. Aber auch die grüne Glaubwürdigkeit ist dahin. Die Grünen spielen in der Sache herunter. Sie bagatellisieren Schutzgelderpressungen, die geschleusten Ukrainern nachweislich in Spanien und Portugal widerfuhren, zum freiwilligen Apfelpflücken in der Sonne. Und in der Form wehren sie die Vorwürfe gegen ihren Darling in einem Stil ab, den sie früher verachteten und verspotteten. In Elefantenrunden nach der Wahl mutieren frühere Moralapostel wie Steffie Lemke plötzlich zu Sprechautomaten Marke „Markus-Söder-links-gewendet“. Die Nation lacht.

So tut man sich und Joschka Fischer keinen Gefallen. Wer wirklich will, dass eine liberale Bundesrepublik offen bleibt für Tourismus und Einreise auch aus Osteuropa, der muss die Missstände der Jahre 2000 bis 2002 aufklären und verstehen. Sonst ist die „moderne und transparente Visapolitik“, die allen gut tun würde, auf Jahre hinaus erledigt.

Fotohinweis: CHRISTIAN FÜLLER, 41, ist Redakteur im Inlandsressort der taz. Seine journalistischen Lieblingsthemen sind Budget und Bildung.