Ruinen der Erinnerung

Der Hamburger Filmemacher Niels Bolbrinker beschreibt in seinem Film „Fluten“ am Beispiel seiner Mutter die Psychose der Kriegskindergeneration – jener Menschen, die sich zeitlebens nicht als Opfer fühlen durften

Die Psychose hat Kriegserinnerungen nicht ausgelöscht

Niels Bolbrinker hat seine Mutter verloren. Jahr für Jahr hat sie sich tiefer in ihre Krankheit zurückgezogen. Depression, schizo-affektive Psychose: Die Ärzte haben die heute 78-Jährige zu einem chronischen Fall für die Psychiatrie erklärt. Doch was ist das, ein Fall für die Psychiatrie? Und hat nicht auch diese junge Wissenschaft ihre eigene, immanente Krankheitsgeschichte?

Bolbrinker behandelt mit seinem Film Fluten, der jetzt im Lichtmeß gezeigt wird, gleich zwei komplexe Themen: Der Hamburger Regisseur und Kameramann zeichnet die Traumatisierung der Kriegsgeneration nach, zu der auch seine Mutter zählt, und erzählt parallel die zwiespältige Psychiatriegeschichte der vergangenen 100 Jahre in Deutschland. „Äußerlich hat meine Familie den Krieg überlebt“, sagt Niels Bolbrinker, „aber psychisch waren sie Versehrte.“

Bei seiner Mutter brach diese innere Versehrtheit in eine offene Wunde auf: Ihren ersten Zusammenbruch erlitt sie nach dem Tod ihres ersten Mannes – und wurde mit der in den 50er Jahren üblichen Elektroschock-Methode behandelt. Nach 30 „normalen“ Jahren brach die Krankheit mit Eintritt ins Rentenalter wieder aus und steigert sich bis zur völligen Demenz.

Bolbrinker nähert sich der äußerst persönlichen Betrachtung seiner Mutter vorsichtig – durch die Distanz der Bilder. Er wirft Projektionen an die Wände – alte Familienfotos, Bilder aus dem kriegszerstörten Hamburg und Aufnahmen aus psychiatrischen Anstalten des vergangenen Jahrhunderts – und lässt seine Mutter erzählen. Über die Fotos findet sie zurück zu den Ruinen ihrer Erinnerung: „Hamburg sieht aus wie eine alte Frau“, sagt sie angesichts der Bilder, die nach dem verheerenden „Feuersturm“ der Alliierten im Juli 1943 aufgenommen wurden. Und sie zuckt auch heute noch zusammen, wenn sie Bilder von Behandlungsmethoden mit Elektroschocks sieht: „Seelendrücker“ – so nennt sie die Geräte. Die Erinnerung und der Schmerz sind sofort wieder da, die Psychose hat sie überdeckt, aber nicht ausgelöscht. Über die Horrorjahre des Kriegs kann sie immer noch nicht erzählen, sie flüchtet sich in Kinderlieder und Reime. Doch die Andeutungen lassen Schlimmes ahnen: ein vom Krieg seelisch verstümmelter Vater, die ständige Angst der sozialdemokratischen Familie, „von den Nazis vergiftet zu werden“, die Nächte der Bombardierungen und ein sexueller Missbrauch während der Kinderlandverschickung.

Fluten erzählt zwar von einem Einzelschicksal, ist aber auf eine gesamte Generation übertragbar. Es sind die Kriegskinder, die sich zeitlebens nicht als Opfer fühlen durften. Angesichts der Verbrechen der Nazis war kein Platz, um die Kinder der Täter zu bemitleiden. Bei vielen dieser Menschen brachen die jahrzehntelang verdrängten Erfahrungen erst im Alter hervor. Seit wenigen Jahren gibt es die ersten Therapiezentren, die sich auf diese Fälle spezialisiert haben. Ob es für Bolbrinkers Mutter so etwas wie Heilung geben mag, ist zweifelhaft. Und doch kann man in ihren Augen noch immer die sensible, intelligente junge Frau erkennen, der man Kindheit und Jugend geraubt hat. Carolin Ströbele

Hamburger Premiere in Anwesenheit des Regisseurs: Do, 10.3., 20 Uhr, Lichtmeß