Die Küsse des Herrn Vorscherau

Der Dinosaurier lebt noch: Beim Landesparteitag diskutierten Hamburgs Sozialdemokraten in der Norddeutschen Affinerie über ihre künftige Wirtschaftspolitik und Strategien gegen den dramatischen Mitgliederschwund

Die SPD will eine hippe Partei sein: Ihren Landesparteitag am Samstag auf der Veddel eröffnete die Partei deshalb nicht mit inhaltlichen Debatten, sondern mit einem TV-Komiker: Der französelnde „Alfons“ riss Witzchen, zeigte Filmchen und machte sich über den Mitgliederschwund der Sozialdemokratie lustig: Er bat die Delegierten, für ein „Erinnerungsfoto vom Dinosaurier SPD“ zusammenzurücken und in die Kamera zu lächeln. „Ich meine Dinosaurier nicht wegen der Größe, sondern wegen des Aussterbens“, so Alfons.

Die Genossen in der alten Schlosserei der Norddeutschen Affinerie (NA) lachten lauthals und starteten prompt eine Neumitgliederkampagne, die Landesvorstandsmitglied Thomas Stölting im schönsten Funktionärssprech „als Herzstück unserer organisationspolitischen Erneuerung“ bezeichnete. Stölting machte keinen Hehl aus der „dramatischen Lage der Partei“. Die Hamburger SPD habe derzeit 12.450 Mitglieder. Vor 15 Jahren dagegen seien noch 20.000 Hamburger im Besitz des Parteibuchs gewesen. Die Verankerung in den Stadtteilen sei nicht mehr so tief, die Partei leide an Überalterung und verbuche zu wenige Neueintritte: „Unsere politischen Wettbewerber werden stärker, wir werden schwächer.“

„Wir brauchen keine Hochglanzkampagnen mit teuren Anzeigen oder Megaevents“, sagte Stölting und kündigte eine flächendeckende Gesprächsoffensive an: „Jeder von uns sollte dort werben, wo man ihn persönlich kennt, wo er Vertrauen genießt.“

Auch Ex-Bürgermeister Henning Voscherau beklagte in einem galligen Redebeitrag den Mitgliederschwund. Doch „nur mit dem Argument, wir hätten gerne mehr Beitragszahler, gewinnen wir niemanden“, mahnte der Altvordere. „Wir wollen die Menschen um der Sache willen gewinnen, nicht der Kartei wegen.“ Voscherau erinnerte an Herbert Wehner, der Bescheidenheit und Demut, aber auch Mut vorgelebt habe: „Das sozialdemokratische Hamburg ist doch noch da“, rief Voscherau aus, „wir brauchen es nur wach zu küssen.“ Kein Genosse müsse „den Kopf einziehen“. Gelegenheit, diesen Rat zu befolgen, hatten die Anwesenden sogleich, als Gastgeber und NA-Chef Werner Marnette sein „Grußwort“ zu einer Abrechnung mit der rot-grünen Bundesregierung nutzte und einen vermeintlichen „Umweltwahn“ anprangerte.

Nach dem Showteil war programmatische Kärrnerarbeit angesagt: „Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik stellt die Menschen in den Mittelpunkt“, rief Parteichef Mathias Petersen in einer Grundsatzrede aus. Neben der Absage an Studiengebühren und einem Ja zu erneuerbaren Energien forderte Petersen eine „umfassende Bildungsoffensive“, einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, sowie mehr Lehrstühle für die Medienausbildung in Hamburg. Die etwas papieren vorgetragenen Ausführungen Petersens wurden zwar am Ende brav beklatscht, während der Rede rührte sich aber kaum eine Genossenhand für den nervös referierenden Vorsitzenden.

Die Stellung des Arztes aus altem sozialdemokratischen Geschlecht dürfte gleichwohl unangefochten sein. „Das ist unser Mann für das Bürgermeisteramt“, raunte ein SPD-Promi hinter vorgehaltener Hand. „Da stimmen einfach drei Dinge: Gesicht, Beruf und Name.“

Den wirtschaftspolitischen Leitantrag verabschiedeten die Delegierten schließlich, auch wenn manche auf der Busfahrt vom Bahnhof Veddel zum Parteitag noch gemosert hatten: „So ein blöder Antrag! Da muss zu allem und jedem was gesagt werden, und dann noch die ganzen Änderungsanträge – das ist doch alles viel zu viel.“ Markus Jox