berliner szenen Heute und gestern

Rockdialektik

Früher war vielleicht nicht alles besser, aber vieles anders. Da hatte man zum Beispiel noch Zeit, um sich vor einem Konzert mit ein paar Bier warm zu machen und das Wichtigste zu besprechen. Heute geht das nicht mehr. Auf Rockkonzerte zu gehen ist wie ins Kino zu gehen: 20 Uhr Vorstellungsbeginn. Wer schlau ist oder tatsächlich gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, wer also wenigstens noch ein Stündchen chillen möchte, schenkt sich Werbung oder Vorbands, ist dann aber in Verzug.

So geschehen am Freitag bei And You Will Know Us By The Trail Of Dead. Kaum hatte man um Viertel nach neun den Postbahnhof betreten, begann die Band aus Texas schon ihr Konzert, und das gleich mit dem tollsten Stück von ihrem an tollen Stücken nicht armen neuen Album „Worlds Apart“: mit dem Opener „Will You Smile Again“, einer grandiosen sechsminütigen Achterbahnfahrt, bei der es heftig rauf und runter geht; einem Song, der böse ist, aber gut, der genauso melodramatisch wie zackig klingt. Ein guter Opener auch für ein Konzert, das genau wie dieses Stück war, manchmal aber eine Idee zu verklemmt wirkte: immer pompös und bombastisch, aber keine Freiheit für die Rock-’n’-Roll-Säue. Doch das nur am Rande.

Der einzige Wunsch, der wirklich offen blieb: Es war zu kurz. 22.30 Uhr war Ende. Nebenan musste die Radio-Fritz-Disco pünktlich begonnen werden. Dort gab es, als gäbe es kein Heute, „Love Like Blood“ von Killing Joke oder „Shout“ von Tears For Fears zu hören, beides Stücke von 1985. Sollen da mal irgendwelche Twens kommen und den Altvorderen vorwerfen, sie würden die Vergangenheit glorifizieren! Früher war nicht alles besser, funktioniert aber anscheinend heute noch immer. GERRIT BARTELS