Heuschrecken statt Handys

Stille Andacht bei den Profis, große Begeisterung bei den Computernerds mit ruinierter Aufmerksamkeitsspanne: Im Rahmen der MaerzMusik interpretierte das London Sinfonietta Tracks aus dem Umfeld des englischen Labels Warp

Wie soll ein mit nonstop pumpenden DJ-Mixen und Gameboys groß gewordenes Publikum ahnen, dass es so etwas wie mehrsätzige Musik gibt, in deren Pausen man sich bitte schön still verhält oder höchstens kurz hüstelt? Als am Freitagabend die London Sinfonietta im Haus der Berliner Festspiele gastierte, füllten junge Begeisterte jedes Atemholen in György Ligetis „Kammerkonzert“ mit Jubel. Ein Affront gegen die Konzertsaal-Etikette, dem die älteren, schwarz gekleideten Profi-Hörer weiter vorne im Saal nicht besser zu begegnen wussten als mit entrüstetem Zungenschnalzen.

Dass es beim Eröffnungskonzert des vierten MaerzMusik-Festivals zu solchen Szenen kommen würde, war abzusehen, schließlich spielte das renommierte britische Ensemble für Neue Musik nicht nur Cage, Stockhausen und Ives. Bearbeitungen von, man sollte wohl sagen „Tracks“ des englischen Labels Warp standen ebenfalls auf dem Programm – und Warp ist nun mal bekannt dafür, die Lieblingsmusik von hyperaktiven Computernerds mit ruinierter Aufmerksamkeitsspanne zu veröffentlichen. „Warp Works and 20th Century Masters“, dieses Programm feierte vor zwei Jahren in der Londoner Royal Festival Hall Premiere, am Freitag markierte es das erste Gastspiel der London Sinfonietta in Berlin seit 1988. Damals befand sich Warp gerade noch in seiner Gründungsphase. Und seitdem ist einiges passiert: Techno hat sich längst seinen Weg in den Mainstream gebahnt, Warp, das einstige Aushängeschild der „Intelligent Dance Music“, ist mit HipHop-Künstlern und Rockbands im Tagesgeschäft angekommen, und klassisch geschulte Arrangeure wie David Horne und Morgan Hayes machen sich daran, die elektronischen Soundcluster von Aphex Twin und Squarepusher in Partituren zu übertragen.

So schien es am Freitagabend ein wenig paradox, wie sehr sich die Warp-Artisten plötzlich ähneln, wenn sie ihrer in hochgerüsteten Maschinenparks zusammengefrickelten Sounds beraubt und auf das klassische Instrumentarium eines Orchesters zurückgeworfen werden – sprich: Wenn man versucht, Aphex Twins perfide Schreddergewitter in einem Tumult aus Bläsertuschs, Klaviergehämmere und kratzenden Streichern nachzubilden. Die London Sinfonietta unter Leitung von Martyn Brabbins bewies dabei erstaunliches Konzentrationsvermögen und Akkuratesse, besonders bei Squarepushers „Disintegrations 1: The Tide“ mit seinen für elektronische Musik völlig untypischen Tempo- und Taktwechseln. Als Mira Calix, eine der wenigen Produzentinnen bei Warp, auf die Bühne kam, um ihr Stück „Nunu“ zu spielen, imitierten die Musiker sogar das Zirpen kopulierender Heuschrecken.

Den größten Applaus, selbst von den Warp-Fans, ernteten allerdings John Cages „Sonatas & Interludes“, die einem präparierten Flügel metallisches Husten beibrachten, sowie Karlheinz Stockhausens „Spiral“, ein Duett für Kurzwellenempfänger und Saxofon. Während der Solist fleißig am Transistor drehte, pumpte durch das Rauschen – verstärkt durch diverse Effektschleifen – der verzerrte Technobeat eines Dance-Hits, gewissermaßen die pervertierte Variante dessen, was Warp Ende der Achtziger als Avantgarde mit auf den Weg brachte. Ein Wink aus dem Äther, der zumindest für diesen Abend den Schulterschluss zwischen Klassik-Erneuerern und nicht mehr ganz so neuen Elektronik-Pionieren besiegelte.

So wunderte am Ende am meisten, dass die jungen Warp-Fans im Publikum vor Beginn der Vorführung tatsächlich alle daran gedacht hatten, ihr Handy abzuschalten: Bis zum Schluss vermochte kein einziges Piepen den Saal daran zu erinnern, dass „neue Musik“ heutzutage auch noch etwas ganz anderes bedeuten kann. JAN KEDVES