Der gefühlte Skandal

Viele Aspekte von Fischers Visa-Affäre haben nichts miteinander zu tun, werden aber doch verbunden. Zumindest innenpolitisch hat die Debatte nur einen symbolischen Wert

Die Koalition kann auf den Realitätssinn des Außenministers nach wie vor nicht bauen

Wer meint, bei der Visa-Affäre gehe es nur noch um Nachhutgefechte, der begeht einen ähnlichen Fehler wie kürzlich Joschka Fischer, der glaubte, die Sache nicht weiter ernst nehmen zu müssen. Diese Einschätzung teilte er bekanntlich mit zahlreichen Spitzenkräfte seiner eigenen Partei und auch der SPD.

Es wird sich bald zeigen, ob die Beteiligten aus Schaden klug geworden sind. Denn die Gegenseite hat das Match nicht etwa verloren gegeben – warum sollte sie auch? Sie nimmt gerade Anlauf. Das ist nicht die Zeit für Schlagzeilen. Sondern die Zeit, eine Affäre vorübergehend auf kleiner Flamme zu kochen, um dann den Großangriff mit umso größerer Wucht beginnen zu können. In dieser Periode geht es nur darum, das Interesse des Publikums nicht zu verlieren.

Es ist also folgerichtig, dass gegenwärtig zwar immer wieder neue Meldungen lanciert werden, aber keine Nachrichten, die tatsächlich Aufsehen erregend wären. Sondern eher solche, die den Kern der Angelegenheit gar nicht berühren. Etwa die, dass Joschka Fischer die Missstände bei der Visavergabe in der Ukraine schon seit Juni 2000 aus eigener Anschauung gekannt haben soll, weil er bereits damals die Konsularabteilung der Botschaft besuchte.

Das dürfte ebenso wahr wie irrelevant sein. Fest steht: Der Außenminister hat zu spät auf Probleme und entsprechende Warnungen reagiert und das inzwischen eingeräumt. Fest steht auch: Zu einem Zeitpunkt, der deutlich vor der Einsetzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses lag, hat er dann eben doch reagiert. Welchen Informationsgehalt hat also eine Meldung wie die vom genauen Ablauf der Fischer-Visite in Kiew im Jahre 2000? Und welche Funktion erfüllt sie?

Vor allem eine: Das Gefühl wird erzeugt, es kämen immer noch neue Dinge heraus, „irgendwie“ habe der Außenminister also doch mehr Dreck am Stecken als bislang sichtbar geworden sei. Ein sehr gewöhnliches Spiel zwischen politischen Gegnern. Dessen Ausgang die Regierung in diesem Fall jedoch Grund hat zu fürchten. Das liegt vor allem daran, dass die Visa-Affäre ungewöhnlich viele Aspekte des politischen Spektrums berührt, die sich alle miteinander verrühren lassen und doch wenig miteinander zu tun haben.

Das öffentliche Interesse gilt vor allem der Person Joschka Fischer und den innenpolitischen Aspekten der Angelegenheit. Das ist nicht weiter erstaunlich, da Außenpolitik seit dem Ende der bipolaren Welt eigentlich nur noch im Zusammenhang mit Krieg und Frieden allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen vermag. Was in seltsamem Kontrast zu den realen Gegebenheiten steht, in denen dieses Feld – von der Entwicklung der EU bis hin zur Forderung nach einer UNO-Reform – immer wichtiger wird.

Dass die Person Joschka Fischer im Mittelpunkt gerade dieser Affäre steht, ist kein Zufall. Es dürfte kaum jemanden geben, der dem Außenminister unterstellte, sich etwa persönlich bereichern zu wollen oder Privilegien zu missbrauchen. Vermutlich würde aber auch kaum jemand bestreiten wollen, dass Fischer arrogant ist, nur selten auf Augenhöhe kommuniziert und so einschüchternd und beleidigend wirken kann, dass niemand ohne Not wagt, ihm eine unerfreuliche Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

Derlei charakterliche Dispositionen bleiben für einen Politiker nicht folgenlos. Nicht nur deshalb, weil auch Journalisten gerne eine Gelegenheit nutzen, um sich für erlittene Kränkungen zu rächen. Noch wichtiger aber ist: Wenn ein Minister nicht mehr daran erinnert wird, dass er sich nicht nur um seinen Platz in den Geschichtsbüchern zu kümmern hat, sondern auch um die Niederungen des Alltags – sprich: um die Arbeitsbedingungen in seinem Amt und dessen Außenposten –, dann wird er das gerne verdrängen. Das macht ihn angreifbar.

Memento mori. Bedenke, dass du sterblich bist. Ob Fischer je den Sinn dieser Mahnung begriffen hat, ist zweifelhaft. Er habe über seinen Rücktritt nachgedacht, erklärte er gerade in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. Und fügte dann hinzu: „Wenn ich das abwäge, auch im Hinblick auf die Herausforderungen, vor denen wir innen- und außenpolitisch stehen, komme ich zu dem Schluss: Ich mache weiter.“ Was im Klartext heißt: Ich halte mich auf schlechterdings allen Feldern der Politik für unersetzlich.

Diese Passage des Interviews müsste bei der rot-grünen Führungsriege alle Alarmglocken schrillen lassen. Sie ist der unmissverständliche Hinweis darauf, dass die Koalition auf den Realitätssinn des Außenministers nach wie vor nicht bauen kann. Dabei würde der gerade im Augenblick bitter nötig gebraucht. In innen- wie in außenpolitischer Hinsicht.

Der Versuch, die Affäre zu einem innenpolitischen Skandal hochzujazzen, ist unseriös und entbehrt jeder Grundlage. Schwarzarbeit, Schleuserunwesen und Zwangsprostitution sind dramatische Probleme – aber es gibt bislang keinerlei belastbare Hinweise darauf, dass sie tatsächlich durch die Praxis der Visavergabe in Kiew vergrößert worden sind. Auch polnische und tschechische Billigarbeiter können Deutschland in Not bringen, ganz legal übrigens.

Fischer war schon 2000 in Kiew – die Meldung dürfte ebenso wahrwie irrelevant sein

Unfassbar, dass die Regierung nicht rechtzeitig begriffen hat, wie gefährlich ein demagogisches Gebräu ist, das sich aus Ängsten der Bevölkerung vor Kriminalität, Arbeitslosigkeit infolge ausländischer Billigkonkurrenz und so genannter Überfremdung speist. Unfassbar, aber paradoxerweise sehr realitätsnah und sogar ein wenig sympathisch. Denn in der Tat haben Ideologien mit der Angelegenheit wenig zu tun, schon gar nicht vermeintliche multikulturelle Träumereien der Grünen.

Ohnehin ist die Debatte in symbolischer Hinsicht erheblich bedeutsamer als im Blick auf die reale Politik. Wer eine afrikanische Freundin nach Deutschland einladen will, steht heute vor keineswegs geringeren Hürden als zu Zeiten der Kohl-Regierung. Andererseits wünscht auch die Union den internationalen Austausch von Wissenschaftlern, Künstlern und Jugendlichen. Die politischen Lager sind in der Frage der Visapolitik erstaunlich nah beieinander.

Im außenpolitischen Bereich liegen die Dinge so einfach nicht. Falls professionelle Fehler des Auswärtigen Amtes zu einer Verletzung des Schengen-Abkommens geführt haben sollten, dann minderte dies die Vertrauenswürdigkeit der Bundesrepublik gegenüber den Partnerstaaten. Mag ja sein, dass die Öffentlichkeit das weniger interessant findet als die vermeintlichen innenpolitischen Aspekte der Affäre. Es ist dennoch relevant. Wenn Versäumnisse eines Außenministers zu einem Glaubwürdigkeitsverlust seines Landes führen, dann muss er zurücktreten, weil er dann seinem Amtseid nicht gerecht geworden ist.

Nach allem, was bisher bekannt geworden ist, muss sich Joschka Fischer das noch nicht nachsagen lassen. Er hat Fehler gemacht und zugegeben. Aber wenn bereits diese Tatsache hinreichend für einen Rücktritt wäre, dann würde künftig überhaupt kein Politiker mehr irgendein Versäumnis einräumen. Es bleibt allerdings abzuwarten, was noch hinzukommt. Und es bleibt abzuwarten, ob die Bevölkerung überhaupt eine Chance zur Unterscheidung erhält. Die seltsame und seltene Mischung aus innenpolitischen, außenpolitischen und persönlichen Aspekten der Affäre wird die öffentliche Urteilskraft in keinem Falle erleichtern. BETTINA GAUS