Elf und einer

Was die Eltern H. beim Bier in der Dorfkneipe oder beim Abendbrot predigten, setzten ihr Sohn und seine Freunde um

AUS POTSDAM ANJA MAIER

Pickel und Segelohren, Rundrücken, Sweatshirts und Turnschuhe. Jungs eben. Elf Jugendliche, die in den Saal 215 im Potsdamer Landgericht schlenzen. Einer ist schon vorher hereingeführt worden, in Handschellen. Sie sind hier, weil sie eine terroristische Vereinigung gebildet haben sollen. Und weil sieben der Jungen sich Sturmmasken und Uniformjacken übergezogen haben und nachts über die Brandenburger Dörfer gefahren sind, um Ausländer einzuschüchtern, Brandsätze zu legen. Damals, als sie das Freikorps waren.

Auf den Zuschauerbänken sitzen ihre Eltern. Seit November sehen sie sich hier in Potsdam. An zehn nicht öffentlichen Terminen wurden 60 Zeugen und Sachverständige gehört, sprachen davon, was ihre Söhne ungestört über zehn Monate angerichtet hatten. „Das ist unser zweites Zuhause“, scherzt ein Vater mit Goldrandbrille und rosigem Gesicht. Es ist ein guter Tag für die Eltern, die Stunde der Verteidigung, die Anwälte ihrer Söhne tun ihre Arbeit. Endlich einmal wird dem Oberstaatsanwalt widersprochen.

In einer Julinacht 2003 hatten sich die Jungs auf einem Feld versammelt, mit Bierkisten in der Hand und Wut im Bauch. Mutter H. hatte sie vom Hof geworfen, sie könne den ewigen Lärm nicht mehr ertragen. Sie mussten raus aus der Scheune, wo sie seit Monaten ihre Freizeit verbrachten, runter vom Hof, wo sonst beim Mopedschrauben über ihnen die Reichskriegsflagge flatterte. Frau H.s Sohn, der damals 18-jährige Gymnasiast Christopher, soll in jener Nacht laut Zeugenberichten gesagt haben, jetzt müssten den Worten mal Taten folgen, sie könnten einen Club gründen, eine Bruderschaft, Zusammenhalt, etwas in der Art. Einer hatte noch seine Schulsachen dabei. Der machte den Protokollanten. Alle wollten dabei sein. Wenn schon mal was los war, hier in Pausin, dem brandenburgischen Straßendorf bei Nauen.

Sie gaben sich den Namen Freikorps und formulierten ihr Ziel: Das Havelland sollte frei werden von Ausländern. Damit das geschieht, sollten die Döner brennen. Und die Asia-Imbisse. Eben alles, wo Fidschis und Kanaken Geld verdienen. Damit sie das auch bezahlen können, legten sie einen Monatsbeitrag fest: fünf Euro pro Freikorps-Mitglied. Für Benzin fürs Auto, Benzin für die Brandsätze. Alle unterschrieben die Satzung mit ihren Initialen.

Es wurde ein heißer Sommer, ein sehr heißer Winter, auch noch ein wilder Frühling. Im Juli 2004 war es aus: Alle zwölf wurden verhaftet. Sie hatten zwischen August 2003 und Mai 2004 zehn Anschläge verübt, im Schnitt einen pro Monat. Sie hatten 800.000 Euro Schaden angerichtet, Sachschaden. Sie waren in dieser Zeit zur Schule gegangen, zur Ausbildung, hatten Mädchen geküsst, Geburtstage gefeiert, an Mopeds geschraubt und Existenzen vernichtet. Ihre Mütter hatten ihre Bomberjacken gewaschen, ihre Lonsdale-Sweatshirts. Und ihre Väter hatten vielleicht mal über den Flur gerufen, sie mögen die Musik leiser drehen, wenn die Rechtsmucke beim Fernsehen störte. Keiner hat gefragt, wo kommst du jetzt her, was sind das für Aufnäher an deiner Jacke, was treibt ihr da eigentlich bei den H.s auf dem Hof? Keiner gesagt, jetzt ist aber mal Schluss, du bleibst heute Abend zu Hause.

Nun sitzen ebendiese Väter und Mütter beieinander in den Zuschauerbänken und schauen auf die Rücken und Hinterköpfe ihrer Kinder, die schwarzen Talare der Anwälte. Sehen rechts Oberstaatsanwalt Eugen Larres sitzen, vorn die Richterin. Sie kommen zu jedem Prozesstag die 30 Kilometer aus dem Havelland rübergerutscht, teilen sich – wie damals ihre Söhne – die Benzinkosten. Sie flüstern miteinander, wenn vorn verhandelt wird, geben sich gegenseitig Feuer, wenn Pause ist.

Nur ein Elternpaar hat eine Bankreihe ganz für sich. In den Pausen meiden sie die anderen Mütter und Väter und umgekehrt. Es sind die Eltern H., Christophers Eltern, des Jungen mit den Handschellen. Er ist der Hauptangeklagte, er gilt als Anführer des Freikorps, für ihn fordert Oberstaatsanwalt Larres viereinhalb Jahre Haft.

Frau H. soll gewusst haben, was ihr Sohn und dessen Freunde da trieben. Soll gesagt haben: „Lasst euch nicht erwischen!“ Noch Mitte Januar, kurz vor dem Plädoyer des Staatsanwalts, sagte Frau H. dem Rundfunk Berlin-Brandenburg: „Das ist alles so hochgespielt.“ Ausländer aus dem Havelland zu vertreiben scheint für sie legitim, einmal soll sie die Jugendlichen zu einem nächtlichen Anschläge gefahren haben. Dass es so war, konnte bis heute nicht bewiesen werden, es läuft ein Ermittlungsverfahren gegen sie, sagt der Anwalt ihres Sohns, Michael Tschirschke.

Die Frau sitzt neben ihrem Mann, einem stämmigen Brandenburger. Mit ihren rötlichen kurzen Haare und der Brille sieht sie aus wie eine nette Kindergärtnerin. Das ist ihr Beruf. Aber Herr und Frau H. sind arbeitslos. Dennoch sind sie nicht „sozial deklassiert“, wie es Rechtsanwalt Michael Barth im Plädoyer für seinen Mandanten Sebastian A. formuliert. Die H.s sind alte Pausiner, „die aus der Schatulle leben“. Sie haben Grundbesitz, den sie seit Jahren erschließen und anschließend als Bauland verkaufen. Aber, sagt Barth, „sie gefielen sich als Arbeitslose“ und suchten nach „welchen, die unter ihnen sein müssen“. Was sie beim Bier in der Dorfkneipe oder am häuslichen Abendbrottisch predigten – Sozialneid und Ausländerhass – haben ihr Sohn und dessen Freunde in Taten umgesetzt.

Kein Wort fällt zwischen den H.s und den Eltern der anderen elf Angeklagten. Leicht zu erklären, folgt man der Argumentation der Anwälte seiner Mitangeklagten. Von „elf und einem Angeklagten“ spricht Anwalt Barth in seinem Plädoyer. Er verteidigt das jüngste Freikorps-Mitglied, „den Benjamin“.

Sebastian A., damals 14 Jahre alt, hat in der Nacht auf dem Feld seine Initiale unter den Wisch gesetzt. Er hat – anders als fünf seiner Mitangeklagten – von Anfang an gesagt, Brände legen zu wollen. Und der heute 16-Jährige mit den rosigen weichen Gesichtszügen hat sein Versprechen gehalten. In den Weihnachtsferien 2003 hat er gemeinsam mit Steffen V. einen Dönerimbiss in Falkensee in Brand gesteckt. Eine Anwohnerin löschte das Feuer rechtzeitig. Drei Monate später war dann ein Grill in Schönwalde dran. Steffen V. und Sebastian A. brachen den Imbiss auf, setzen ihn in Brand. Diesmal klappte alles: Der Inhaber war ruiniert.

Hundert Meter entfernt, im Auto, wartete Christopher H. im Schutz der Dunkelheit. Er hat ihnen den Kanister mit dem Brandbeschleuniger gegeben, argumentiert der Anwalt. Er war der Älteste, der Anführer. Der eine.

Vier Monate nach diesem Anschlag – dem achten von zehn – werden elf und einer festgenommen. Der eine – Christopher – bleibt in Untersuchungshaft. Bis jetzt. Gegen alle gemeinsam wird wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Das heißt: bis zu zehn Jahren Haft.

Möglicherweise ist das ein struktureller Fehler in diesem Verfahren. Denn wohl waren alle, die hier in Saal 215 sitzen, in jener Julinacht auf dem Feld dabei. Gleichwohl haben nur sieben von ihnen tatsächlich Brandanschläge verübt.

„Was heißt denn hier die Angeklagten?“, fragt provokant der Anwalt von Michael B. in seinem Plädoyer. „Da muss doch mal eine Einordnung stattfinden.“ Und Rechtsanwalt Wolfgang Kyselka ordnet ein.

Er spricht von „Vorverurteilung“ durch die Medien, bestreitet, dass die Anschläge auf die – in aller Regel nicht versicherten – Imbissbetreiber „verheerend“ gewesen seien, dies Adjektiv stünde wohl nur dem Tsunami in Südostasien zu. Er fährt die Strategie aller Anwälte der elf Havelländer: den Terrorvorwurf vom Tisch wischen und anschließend den eigenen Mandanten zum Verführten stilisieren. Die Eltern haben es im Laufe der Zeit verinnerlicht, dass es besonders schlimm war, was H. getan hat. Und das, was ihre Söhne getan haben, wohl nicht so schlimm. Dazu passt, was der Anwalt sagt. Wolfgang H. Kyselka zitiert ein Gutachten, das B. zur Tatzeit einen Blutalkoholspiegel von 2,62 Promille bescheinigt, und endet mit den Worten, im Fall G. „brauchen wir über Strafe nicht zu reden“. Freispruch lautet sein Antrag.

Es ist das achte Plädoyer von zwölf. Das erste, in dem Freispruch gefordert wird. In die Zuschauer kommt Bewegung, ihre Mienen hellen sich auf. Die Eltern stoßen einander mit den Ellenbogen an, in der Pause wird der Vater des Angeklagten Patrick W. murren: „Unglaublich, was ein erwachsener Mann sich hier leisten darf.“ Er meint damit Oberstaatsanwalt Larres.

In der letzten Sitzungspause ist die Stimmung locker. Die Angeklagten lärmen ein bisschen im Gang vor dem Saal. Es hat etwas von Schulhof, sie teilen sich Zigaretten, Mandarinen und Knoppers. Ein Anwalt ist in der letzten Woche Vater geworden – das wird launig von den Kollegen kommentiert. Die Beamten am Eingang zum Gericht fangen an, die Sicherheitsschleuse abzubauen, es war ein langer Tag. Nur noch zwei Plädoyers stehen aus.

Als die Justizangestellte wieder in den Saal ruft, ziehen manche Eltern ihre Jacken gar nicht erst aus – es ist eh gleich vorbei. Eine Mutter macht es sich in der zweiten Reihe bequem und legt ihre Füße auf den Vordersitz. Dieter Fritzler, der Anwalt von Pascal B., spricht in seinem Plädoyer von einem „Freundeskreis, Kindern kann man sagen“. Dass die dem „chemieinteressierten Bombenleger“ Christopher H. aufgesessen seien, mache aus der Gruppe doch keine terroristische Vereinigung. Er schildert, wie in den Anfängen des Freikorps, im August 2003, der erste Anschlag scheiterte. Der Asia-Imbiss in Nauen war – das hatten die drei Täter nicht bedacht – vergittert, und mit dem mitgebrachten Schraubenzieher bekamen sie das Schloss nicht auf. Eine Mutter kann ihr Lachen kaum unterdrücken. Wollten sie wohl an die Vorräte im Imbiss ran, die Jungs. Hat nicht geklappt. „Ist auch besser für die Figur“, flüstert sie hörbar ihre Sitznachbarin zu. Anwalt Fritzler nennt den missglückten Anschlag eine „Besichtigung“ und fordert Freispruch für seinen Mandanten.

Es ist alles gesagt an diesem Tag, die Richterin schließt die Verhandlung. Die Anwälte, die Eltern und ihre Söhne verlassen Saal 215. Christopher H.s Handschellen klicken, am Gang zum Zellengebäude warten seine Eltern auf ihn. Mutter H. will ihrem Sohn durchs Haar fahren. Er duckt sich weg.