der mikrozensus am küchentisch von DANIEL STENDER
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Gestern klingelte es an meiner Tür, ich öffnete und vor mir stand eine ältere Frau mit grauem, strubbeligem Haar und einer überdimensionierten Eulenbrille. Sie sagte, sie sei der Mikrozensus und wolle mich statistisch erfassen. Zum Beweis hielt mir der Mikrozensus in seiner weiblichen Form einen Ausweis vors Gesicht und drängte in meine Küche. Ohne den grauen Anorak auszuziehen, setzte sie sich an den zugekrümelten Küchentisch, erfasste eine leere Weinflasche mit statistischem Blick und legte los. Mein Haus und auch ich seien auserwählt, genau untersucht zu werden. Während ich noch grübelte, ob ich der personifizierten Statistik einen Kaffee anbieten sollte, packte die bereits ihr Mäppchen aus und begann, routiniert zu fragen.

Was der Mikrozensus in seiner weiblichen Form nicht wissen konnte, ist, dass gleich die erste Frage mich ziemlich aus der Bahn warf: „Jahrgang?“ – „78.“ „Monat?“ – „März.“ Ich sah, wie es hinter strubbeligem Haar und Eulenbrille zu rattern und zu rechnen begann. 2005 minus 1978. Ja, sagte ich mir, nun weiß es auch der Mikrozensus. „Dann sind Sie also 27.“ – „Ja“, sagte ich und wollte eigentlich „Nein, noch nicht“ sagen, denn diese letzten Tage sind mir wertvoll …

27 – seit Wochen treibe ich auf diese unsägliche Datumsgrenze zu. Früher hatte ich mich auf meine Geburtstage gefreut: 21 oder 24 zu werden, das konnte man laut sagen, dafür musste man sich nicht schämen, das hatte so eine Mischung aus „Mir gehört die Welt“ und Geburtstagskerzen. Aber 27? Wer kann schon 27 Kerzen auspusten? 27, das ist der Anfang vom Ende. 27 – das ist ein Alter zum Sterben, richtig coole Leute legen sich wie Kurt Cobain mit 27 betrunken in die Badewanne oder vor die Straßenbahn oder vor eine Schrotflinte.

Aber so cool bin ich leider nicht, da bleibt mir eben nur, verzweifelt dabei zuzusehen, wie sich sämtliche Türen vor mir schließen. Zum Beispiel auf den Abrisszetteln in der Uni: „Schlagzeuger für Punkband bis höchstens 26“ oder „Mitbewohner in toller 6er-WG bis 26“ werden da gesucht. Sogar auf Kneipenklosprüchen ist die Obergrenze zur Partnersuche 26. Nicht, dass ich Lust auf all das hätte, aber allein die Möglichkeit bedeutet Freiheit, Weite, Jugend.

Den Mikrozensus in seiner weiblichen Form schien all das wenig zu interessieren: „Student?“ – „Ja.“ – „Haben Sie eine abgeschlossene Berufsausbildung?“ – „Nein.“ – „Wann haben Sie Abitur gemacht?“ – „98“, flüsterte ich und sah, wie sich hinter krausem Haar und Brille die Semesterzahlen zu türmen begannen. Ich zählte innerlich weitere Türen, die sich vor mir mit 27 schließen würden: kein Bafög mehr, kein Kindergeld, keine Bahncard 50 für 100 Euro und eigene Versicherungsbeiträge.

Der Mikrozensus fragte weiter: nach privater Rentenvorsorge, vermögenswirksamen Leistungen, Bausparverträgen, Erbschaften, Immobilien. Und während ich auf einen Zettel zu allen weiteren Fragen nach gemeinschaftlicher Haushaltsführung und Frührente ein großes Nein schrieb, beendete der Mikrozensus seine Befragung, murmelte noch etwas über günstige Kredite bei der Deutschen Bank und schloss die Tür.

Mir blieben noch sechs Tage. Ich ließ schon mal das Badewasser ein – für alle Fälle.