Nur ein Hungerlohn bleibt

Sozialbehörde langt bei MitarbeiterInnen der Hamburger Behindertenwerkstätten zu: Sie müssen auf Großteil ihres Lohns verzichten. Betroffene und Elternverein protestieren

„Wenn die Politik wollte, könnte sie Einzelsituationen abmildern“

von Kerstin Fulge

Jetzt trifft die Sparwut auch die Behinderten in den Werkstätten. Die Sozialbehörde langt seit kurzem kräftig in ihr Portemonnaie: Viele Behinderte müssen seit Januar mehr als die Hälfte ihres ohnehin niedrigen Lohns an die Behörde abführen. Die Betroffenen und die Behindertenverbände wurden von der plötzlichen Abgabe überrollt. Denn die Behörde hatte versprochen, Leistungsänderungen anzukündigen. Stattdessen verschickte das zuständige Integrationsamt im Januar einfach neue Bescheide, wie der Elternverein „Leben mit Behinderung“ jetzt warnt. Dieser appellierte an die Sozialpolitiker der Stadt, den Verdienst der Behinderten zu schützen.

Grund für die drastische Abgabe ist das seit Januar bundesweit geltende Sozialgesetzbuch (SGB) XII, das das Bundessozialhilfegesetz abgelöst hat. Das neue Regelwerk schreibt vor, die Einkommen von behinderten Menschen künftig stärker als früher auf das Wohngeld anzurechnen. Die Hamburger Sozialbehörde nimmt das SGB XII nun zum Anlass, ihre bisherige Praxis aufzugeben: „Die Behörde hatte stets Rücksicht auf den niedrigen Werkstattlohn der behinderten Menschen genommen und die Abzüge auf ein erträgliches Maß eingeschränkt“, erklärt Martin Eckert vom Elternverein. Sie sei mit dieser Praxis großzügiger als die Behörden anderer Bundesländer gewesen.

Mehr als 2.500 behinderte Menschen arbeiten in den vier großen Behindertenwerkstätten in Hamburg. Im Durchschnitt verdienen sie monatlich 180 Euro. Alle MitarbeiterInnen, die in betreuten Wohngruppen leben, sind der Behörde zufolge jetzt von der Abgabenerhöhung betroffen. Dies seien rund 1.000.

Für Werkstattmitarbeiterin Marina Erpel bedeutet der Einkommensverlust erhebliche Einschränkungen. Seit Januar muss sie 77,90 von ihren monatlich 178,21 Euro an die Behörde abführen. Somit könne sie sich als Übergewichtige ihre Diätprodukte nicht mehr leisten. Kino- und Konzertbesuche seien ebenfalls kaum noch drin. Auch Horst Oschel wird Einschnitte in seinem Privatleben hinnehmen müssen. So sei es fraglich, ob er sich die lang ersehnten Lese- und Kochkurse weiter finanzieren könne. Von den monatlich 258,33 Euro blieben ihm weniger als die Hälfte: Gerade mal 120,72 Euro.

Die einzige Chance, diese Benachteiligung rückgängig zu machen, sieht Elternverein-Geschäftsführer Eckert in einem Passus des neuen Gesetzes, der besagt, dass die „Besonderheit des Einzelfalls“ zu berücksichtigen sei. „Das ist nur ein kleiner Faden, an dem gezogen werden kann“, meint Eckert, „aber wenn die Politik wollte, könnten künftig Einzelsituationen abgemildert werden.“ Eckert und seine MitstreiterInnen fordern alle Rathaus-Fraktionen und den CDU-Senat auf, zu einer „vernünftigen Lösung zurückzufinden“. Auch Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) wurde per Brief um Hilfe angerufen.

Die Einkommen der WerkstattmitarbeiterInnen werden aber noch von „anderer Seite“ bedroht, wie Michael Sander, Geschäftsführer der Hamburger Werkstatt, beklagt: Durch die Ein-Euro-Jobber. Sie konkurrierten seit dem Hartz IV-Arbeitsmarktgesetz mit den Behindertenwerkstätten bei Verpackungsarbeiten, im Dienstleistungsbereich und im Industriellen Sektor. Deshalb sei die Auftragslage in Hamburg schwieriger geworden. Nun stünden Lohnkürzungen bevor. Sander: „Ab 1. April 2005 wird sich in unserer Werkstatt das Einkommen um 15 Prozent reduzieren.“