Wem gehört Rudi Dutschke?

Drei Generationen streiten sich bei einer Podiumsdiskussion um die Interpretation des Studentenführers. Und jede beantwortet die Frage „Wie handeln?“ anders

Fast alle Zuschauer bleiben sitzen, als im Kinosaal die Lichter angehen. Sie wollen bei der anschließenden Podiumsdiskussion dabei sein. Gerade gab’s den Dokumentarfilm „Aufrecht gehen. Rudi Dutschke – Spuren“ aus dem Jahr 1988. Anlass der Vorführung im Dokument-Kino in Mitte ist Dutschkes 65. Geburtstag. Eines wird sofort klar: Heute existieren mehrere Interpretationen des Studentenführers. In dem Moment nämlich, als die Moderatorin fragt: „War Rudi Dutschke für oder gegen Gewalt?“

Genervt ruft ein Weggefährte Dutschkes „Ja und Nein!“ in Richtung Podium, als wolle er die Frage damit ein für alle Mal beantworten. Doch damit geht’s erst richtig los. Bei der sich anschließenden Diskussion wird die Frage debattiert „Wer war Rudi Dutschke?“. Mit dabei: die Filmregisseurin und Dutschke-Gefährtin Helga Reidemeister, der Doku-Regisseur Dirk Szuszies sowie Marek Dutschke, der jüngste Sohn des Studentenführers. Die taz-Autorin Waltraud Schwab moderiert die Veranstaltung. Hier prallen, so scheint es, drei Generationen politisch Interessierter und Engagierter aufeinander: die 68er, die Zwischengeneration der etwa 40-Jährigen sowie die unter 30-Jährigen. Jede interpretiert „ihren“ Dutschke fast ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod auf eigene Weise. Und jede beantwortet die Gewaltfrage anders, doch alle im Glauben, den Geist der Revolte zu erfassen.

Die 68er in Person von Helga Reidemeister, Mitbewohnerin Dutschkes, gleich alt wie er. Sie erzählt von den Schwierigkeiten, diesen Film nach Dutschkes Tod zu drehen, Archivmaterial zu finden. Und von Ulrike Meinhofs Überlegung, mit Napalm beladene Schiffe auf dem Weg nach Vietnam beim Auslaufen aus dem Rotterdamer Hafen zu versenken. „Keine Frage. Das ist gerechtfertigter Widerstand“, sagt Reidemeister.

Was Politiker zu Rücktritten gezwungen hätte, scheint das Publikum nicht zu stören. Nur der 25-jährige Marek Dutschke macht auf die möglichen Opfer aufmerksam: „Mir geht es um ein simples Prinzip: Opfere ich einen Menschen für einen anderen Menschen?“ Der gelernte Politologe, ein Vertreter der unter 30-Jährigen, sagt: „Heute sind die Fronten viel diffuser als vor dreißig Jahren.“ Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts fehlen einfache Gewissheiten.

Der 48-jährige Filmemacher Dirk Szuszies kontert: „Die Fronten sind die Gleichen geblieben.“ Und überhaupt: Er selbst habe Deutschland in den 70ern verlassen müssen, „weil ich gefährdet war, selbst gewalttätig zu werden“. Heute sorgten sich die Jungen um die Rente, ätzt der wieder in Deutschland lebende Filmer, anstatt aktiv zu werden. Marek Dutschke entgegnet, den Jungen fehlten doch die Vollbeschäftigungsaussichten der 70er-Jahre. „Der Vorwurf des Renten-Blicks ist ungerecht.“

Während die Diskussionsteilnehmer noch streiten, leeren sich langsam die Zuschauerränge. Einige Zuschauer führen noch kurze Hallo-du-auch-hier-Gespräche im Foyer. Dann gehen sie die Treppen hinab auf die Straße. Rudi Dutschke nehmen sie mit nach Hause, als Poster. Jeder sein eigenes Exemplar.

MATTHIAS LOHRE