Das Montagsinterview
„Land? Das ist ein Mythos“

Die heutige Stadt präsentiert sich als Netz der Mobilität. Trotzdem sind Nähe und direkte Begegnungen wichtig
STADT ODER LAND Die beiden Dekane des neu gegründeten Studiengangs „Kultur der Metropole“ im taz-Interview über Städte, Mobilität, Landleben, und gelangweilte Jugendliche aus Schleswig-Holstein

INTERVIEW MAXIMILIAN PROBST

taz: Frau Ziemer, Herr Eisinger: Wo fängt die Metropole an, ist Bremen eine, Hamburg oder erst London?

Angelus Eisinger: Das kommt auf die Perspektive an. Aus der Perspektive des Standortmarketings gibt es beträchtlich mehr Metropolen, als aus gelassener, wissenschaftlicher Perspektive. London ist schon mal ein gutes Beispiel, was Städte leisten müssen: nämlich ökonomisch, sozial, kulturell heterogen zu sein.

Gesa Ziemer: Die Frage ist, lässt eine Stadt verschiedene Lebensentwürfe zu. Starke Indizien sind dafür Subkultur und Migration.

Nun wird seit längerem viel Wirbel um Metropolen gemacht – auch in der Wissenschaft. Deutet das darauf hin, dass die Hochzeit der Metropolen schon vorüber ist?

Eisinger: Ich würde sogar noch weitergehen und sagen: Der Blick auf die alten Metropolen unterliegt einem mythologischen Prozess. Wenn wir uns die Zeit anschauen, in der London oder Paris so etwas wie der Hort der Urbanität waren, dann fällt auf, dass sie auch sehr krisenhafte Gebilde waren, die von Intellektuellen überaus kritisch und skeptisch betrachtet wurden.

Aber Leute wie Baudelaire haben doch ihr Paris verherrlicht.

Eisinger: Das war anfänglich so. Da war der dandyhafte Künstler, der sich in der Masse auflöst, um sich immer wieder neu zu definieren, die Großstadt als Medium nutzt. Diese Figur wird aber später durch skeptischere Positionen ersetzt, wo die Masse nicht mehr das verlockend Anonyme, die Auflösung, Entgrenzung verheißt, sondern als Bedrohung erfahren wird, die die neu gewonnene Freiheit des Künstlers wieder in Frage stellt.

Auch heute wird von Intellektuellen, Paul Virilio etwa, die Stadt wieder als Begrenzung und Bedrohung des Individuums wahrgenommen. Die Stadt als Schauplatz der Zerstörung: Terrorismus, Seuchen… Virilio ist vor kurzem von Paris in die Provinz gezogen.

Eisinger: Ich glaube, als poetische Form funktioniert Virilio sehr gut. Als faktische Beschreibung von Lebensräumen schon weniger. Was sagt er uns denn? Dadurch, dass die Welt eine städtische geworden ist, passieren natürlich auch alle dramatischen Ereignisse in städtischen Räumen. Das ist erst mal eine statistische Notwendigkeit.

Obwohl ja jetzt mit den neuen Kommunikationsmedien die Notwendigkeit gar nicht mehr besteht, sich in städtischen Räumen zu bewegen. Bibliotheken, Freunde, Begegnung – ist doch alles virtuell im Netz zu haben, und damit aus der Provinz.

Ziemer: Deshalb ist für uns Metropole auch kein territorialer Begriff, sondern eher ein qualitativer. Ich sehe das an der Kunst, ich arbeite in Graz für den Steirischen Herbst, und das ist Provinz, aber wenn an einem bestimmten Ort zur Bestimmten Zeit die richtigen Leute zusammenkommen, kann auch die Provinz Metropol-Charakter bekommen.

Eisinger: Ich glaube, es geht um mentale Konstellationen, und die sind tatsächlich mobiler geworden. Das ist ein weiterer Beleg für die begrenzte Reichweite traditioneller Stadtverständnisse. Die heutige Stadt präsentiert sich eben als Netz der Mobilität. Gleichzeitig hat sich die 80er Jahre-These, wonach die elektronischen Kommunikationsmedien zu einer Enträumlichung führen, mittlerweile als pure Romantik herausgestellt. Es hat sich gezeigt, dass wirtschaftliche Macht, Entscheidungsbefugnisse und Kompetenz sich in Städten ballen. Einfach weil die Nähe, die direkte Begegnung eben doch wichtig geblieben sind.

Gleichzeitig sieht man auch ein Schwinden der Nähe in den Städten. Der Typ, der in der U-Bahn sitzt, und mit seinem Blackberry checkt, was die Freunde in London oder Singapur machen. Womit er selbst unansprechbar wird, weit weg.

Eisinger: Daran zeigt sich, dass wir einen Erwartungshorizont der Metropole haben, der sich stark im Begriff des Öffentlichen artikuliert. Wir haben alle dabei die Bilder der 1920er Jahre von dicht frequentierten öffentlichen Räumen vor uns. Ich würde allerdings in Frage stellen, ob das Räume waren, in denen sich tatsächlich öffentliche Identitäten ausbilden konnten, kurz: ob wir nicht auch hier verklären.

Zum Schwinden des Öffentlichen kommt doch noch was hinzu, das der Stadt heute zusetzt, die Gentrifizierung, sozialer Segregation.

Ziemer: Auch deshalb haben wir den neuen Studiengang konzipiert: Wir möchten junge Menschen sensibilisieren für die vielen Initiativen, künstlerische Projekte, Zwischennutzungen und Stadtinterventionen, die sich dagegen wehren. Jetzt etwa werden die ganzen Karstadthäuser in Kürze leer stehen, die müsste man sofort besetzten und riesige Projekte aufziehen.

Was aber, wenn die Zukunft eine andere ist, der Trend hinausläuft auf Gated Communities, auf die Privatstädte, wie sie der amerikanische Kontinent schon kennt. Könnte das Land nicht vor dem Hintergrund dieses Schreckensszenarios eine Alternative sein?

Eisinger: Das Land kann keine Alternative sein, weil mit guten Gründen die Städte als Räume der Freiheit entstanden sind. Als Räume der Imagination, als Räume der Selbstdefinition. Als Räume der Produktivität und der Innovation. Das war das Land nie, das Land war immer, außer für die Wochenendler, ein Ort enorm starker Hierarchisierung, Kontrolle, Zentralisierung, Durchsetzung von obrigkeitlicher Macht mit einer Radikalität, der sich der Einzelne nicht entziehen kann.

Warum ist das alte Modell der Künstlerkolonie kein Erfolgsmodell geworden, warum gibt es keine Designer-Dörfer in der Lüneburger Heide?

Ziemer: Vielleicht, weil sich der Arbeitsmarkt verändert hat. Der Designer ist heute auch noch: Kommunikator, Künstler, Gestalter, Projektmanager. Wir leben in einer konnexionistischen Gesellschaft. Wir müssen immer schnell Verschiedenstes verbinden. Ich bin Wissenschaftlerin, arbeite am Theater und schreibe als Journalistin. Drei Sachen auf einmal. Das geht nur in der Stadt.

Eisinger: Was aber auch wieder mit der Mobilität zu tun hat, und dass sie so ein günstiges Gut geworden ist. Wir beide sind ein gutes Beispiel für solch im Grunde absurden Lebensentwürfe. Wir beide leben und arbeiten in Zürich und Hamburg.

Ziemer: Manchmal wünsche ich mir, die Preise für Mobilität würden so steigen, dass wir uns für einen Ort entscheiden müssten.

Wieso nicht für den, wo man herkommt?

Eisinger: Ich bin – wie alle richtigen Städter – auf dem Land groß geworden. Ich glaube aus eigener Anschauung zu wissen, dass es zutrifft, was in der Literatur so übers Land geschrieben wird. Ich kenne soziale Kontrolle, ich kenne Unfreiheit, ich kenne Macht von Obrigkeiten, seien sie politischer oder religiöser Natur, von alteingesessenen Familien. Das sind Dinge, die die letzten Spurenelemente von Romantik wegwischen, wirklich auf dem Land leben zu wollen. Dennoch kann ich nicht ganz vom kulturell ererbten Erwartungshorizont befreien, und suche diese Idyllen von Zeit zu Zeit auf.

Wo denn?

Eisinger: Nicht in dem kleinen Bergkanton der Schweiz, aus dem ich komme. Der war Ende der 60er Jahre noch ländlich geprägt, Bauern, Handwerksbetriebe, bescheidene Industrialisierung, sehr starke regionale Ökonomie. Aber nicht konkurrenzfähig, und so ist der Kanton überwiegend ein Pendlergebiet geworden.

Ziemer: Ich komme aus einem Dorf in Schleswig-Holstein, da ist es ähnlich. Land? Das ist ein Mythos, dem allenfalls noch ein paar Hamburger anhängen. Es gibt dort nur noch Groß-Landwirte. Die leben wir globale Börsenmakler, sitzen am Bildschirm und verfolgen die Preisentwicklung in Kanada.

Eisinger: Paradox, denn früher stand das Land für die Deckungsgleichheit von Arbeiten, Wohnen und Distribution, die Stadt mit der Fabrik für deren Auseinanderklaffen. Heute gibt es so etwas wie lokale Ökonomie dagegen wieder in einigen Großstädten. Kleine Designer, deren Absatzgebiet ihr Viertel ist. Dieses Muster beschränkter ökonomischer Einzugsbereiche findet sich vielleicht noch in zwei, drei abgeschiedenen Alpentälern. Der Rest ist von permanenter Mobilität ergriffen worden, die notwendig geworden ist, die verschiedenen Verrichtungen des Alltags zu verbinden.

Wenn die Zukunft also der Stadt gehört, immer mehr Menschen in städtischer Umgebung aufwachsen: Wird dann nicht eines Tages der archaische Zufluss vom Land fehlen?

Ziemer: So könnte man Rocko Schamoni interpretieren. Der sagt, dass Kultur in Hamburg in erster Linie von gelangweilten schleswig-holsteinischen Jugendlichen gemacht wird.

Eisinger: Ich war zwar kein Dorfpunk …

Ziemer: Ich schon …

Eisinger: … hatte aber eine gewisse Affinität dazu. Es geht doch letztlich darum, dass man von irgendeinem Ort wegwill. Die Magnete dazu wird es immer geben. Was früher der Zufluss vom Land war, sind heute Migrationsströme. Die bringen, salopp gesagt, frischen Wind in die Städte.