schwabinger krawall: babylonische wirtshausverwirrung von MICHAEL SAILER
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Der Inuit-Dichter Kubok, zur Lesung in das Hinterzimmer von Herrn Reitingers Stammkneipe geladen, zeigt sich bass erstaunt, als er, nach zweitägiger Flug-, Zug- und Trambahnreise in selbiger Lokalität angelangt, erfahren muss, dass der örtliche Schriftsteller und Feuilletonist Karl Friedrich Achenbach, der die deutsche Übersetzung von Auszügen aus Kuboks Versepos „Thunall“ vorzutragen sich ursprünglich bereiterklärt hat – unter der Bedingung, dass daneben auch ein Teil seines eigenen Gesamtwerks zum Vortrag komme –, seine Mitwirkung zehn Minuten vor Veranstaltungsbeginn verweigert. Zur Begründung gibt Achenbach an, zu spät den deutschen Text erhalten zu haben, der ihm überdies, was den Ausschlag gebe, „nicht gefalle“.

Die Diskussion, die sich entspinnt, ist polyphon und mühsam, da der eine Dichter des Deutschen, der andere des Inuit sowie ein großer Teil der Lokalbesetzung keiner der beiden Sprachen in genügendem Maße mächtig ist, um den jeweiligen Argumenten Nachdruck zu verleihen beziehungsweise sie überhaupt zu verstehen. Man fuchtelt mit Armen und Händen, doch geraten auch solche Kommunikationsversuche nicht schlüssig. Der Dichter, den Umgang mit süddeutschen Brauereierzeugnissen nicht gewohnt, beschließt endlich, dem anschwellenden Wirrwarr gurgelnder Kehllaute, die ihm vollkommen unverständlich bleiben, aber immer bedrohlicher erscheinen, Einhalt zu gebieten, indem er einen Stuhl hinter den Tresen wirft und dabei den bis dahin unbeteiligten Wirt zwar um Handbreite verfehlt, jedoch seine Kaffeemaschine schlagartig außer Betrieb setzt und ein halbes Dutzend der unersetzlichen Stammtischseideln in einen Haufen Keramikscherben verwandelt. Das, findet Herr Reithofer, sei der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Über den weiteren Verlauf der Ereignisse ist wenig Belastbares zu ergründen. Die von Anwohnern mit der Meldung einer ganzen Reihe von Gasexplosionen oder Ähnlichem herbeigerufene Polizei kann nicht ergründen, wer Täter, Opfer und Rädelsführer ist, geschweige denn, worum es geht. Der Sachschaden beläuft sich auf rund 14.000 Euro, zuzüglich einer leicht undurchsichtigen Forderung des Dichters Achenbach von 2.000 Euro wegen „Geschäftsschädigung“. Er sei, wird er später vor Gericht anmelden, um eine Gage in nicht verhandelter Höhe gebracht, von einem herabfallenden „Löwenbräu“-Blechschild am Kopf verletzt und durch die unselige Veranstaltung insgesamt in den völlig ungerechtfertigten Ruch der Fremdenfeindlichkeit gerückt worden.

Die Lesungsreihe „Unsere nördlichen Nachbarn“ wird noch an Ort und Stelle ersatzlos eingestellt; der Dichter Kubok gelangt durch einen bedauerlichen Irrtum in Abschiebehaft und wird, da mangels Sprachkenntnissen niemand in der Lage ist, seine Angaben zu prüfen, nach Bosnien gebracht, wo sich seine Spur verliert. Laut Auskunft des geschädigten Wirtes kommt eine auf diplomatischem Weg dorthin geschickte Mahnung zur Begleichung wenn schon nicht der Schäden, dann doch wenigstens der erheblichen Zeche mit dem Vermerk „unbekannt“ zurück. So etwas, meint Herr Reitinger, habe er von Anfang an vermutet.