Die Gottesmutter und die Fetische

Von der Magie der Dinge und anderen Blasphemien: Das Hubertus-Wald-Forum der Hamburger Kunsthalle präsentiert in der Ausstellung „Begierde im Blick“ Fotos der Surrealisten. Die hier erstmals nicht Beiwerk, sondern zentraler Fokus sind

Blick in ersehnte oder gefürchtete Traumwelten hinter dem Alltag

von Hajo Schiff

15 abgestellte Rinderfüße, an einer Mauer sauber aufgereiht: Ohne Aufnahmen des abseitigen und nächtlichen Paris kommt eine Surrealismus-Ausstellung nicht aus. Denn die Bewegung ist ohne diese Stadt nicht denkbar. Aber anders als bei den jüngst in Paris und Düsseldorf gezeigten Überblicksausstellungen sind die Fotos von Atget, Brassai oder Eli Lotar hier nicht Beiwerk: Die am Donnerstag eröffnete Schau in der Kunsthalle macht die den anderen Künsten als gleichwertig gesetzte Fotografie des Surrealismus zum Thema. Strikt auf die Kernzeit der Bewegung zwischen 1924 und 1939 beschränkt, sind fast 300 Fotos und etwa 150 Archivalien von über 30 Künstlern zu sehen.

Die Ausstellung mit dem Titel „Begierde im Blick“ ist in sechs Kapitel gegliedert. Von der Selbstdarstellung der Gruppe über die Mysterien des Pariser Alltags bis zur „Magie der Dinge“ reicht das Spektrum. Und, in dieser dritten Abteilung besonders dramatisch: die Aufnahme einer Hummerschere durch den Unterwasserfilmer Jean Painlevé, die überraschend deutlich als Karikatur von General De Gaulle zu lesen ist.

Der Eros in allen seinen Spielarten und Fetischismen ist da unter der Überschrift „Desir/Plaisir“ zu finden: Nackte Haut in vielen Varianten wird hier dargestellt, darunter Ikonen wie Man Rays Rückenakt einer Frau. Das Spiel mit sexuellen Andeutungen und dem Tausch der Geschlechterrollen wird bis in ungewöhnliche und neu entwickelte Fototechniken getrieben: Solarisationen, Rayographien, Reliefkopiertechniken und Verbrennungen sind da zu finden.

In der „Anarchie“ betitelten Abteilung werden Mörderinnen verherrlicht. Ein Bischof küsst eine Frau, und surrealistische Mitstreiter, die Priester bespucken, werden gelobt. In dem Raum, in dem Breton sich als tot und mit Dornenkrone darstellt und die Gottesmutter Maria den Fetischen aus Zentralafrika gleichgestellt wird, haben die Organistoren der Kunsthalle gar kleine Hinweisschilder angebracht: „Durch das Betrachten der folgenden Photos könnten unter Umständen Ihre sittlichen und moralischen Vorstellungen verletzt werden.“ Noch immer? Und hier im aufgeklärten Norden durch blasphemische Scherze eher als durch abseitige Erotik? Vielleicht ist das ja nur ein eingeschmuggeltes Zitat oder sogar ein Ergebnis des Wunsches, dass diese Kunst auch nach über 70 Jahren ihre provokative Kraft nicht verloren haben möge.

Doch woraus speist sich die Bedeutung des Surrealismus als der vielleicht wichtigsten Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts? Wie hält sich das andauernde Interesse jenseits dieser Ausstellung auch noch an den abgeschmacktesten Spätwerken von Meistern wie Dalí und der dritten Epigonengeneration dieses Stils? Die präzise, scheinbar ganz reale Abbildung des Unmöglichen, des Abseitigen und vermutet Jenseitigen öffnet in der Tat ein Fenster in erwünschte oder gar gefürchtete Traumwelten hinter dem Alltag.

Und doch sollte man bedenken, dass die Kunstwerke für den Surrealismus kein Selbstzweck waren, sondern vielmehr Anlass zum Kontakt mit den Phantasmata im eigenen Leben. Fünf Menschen starren zum Beispiel im arrangierten Foto von Paul Nougé auf einen leeren Kaminsims. Sie allein wissen, was ihre Phantasie da erblickt. Manchmal könnte man denken, dass der moderne Kunstbetrieb ganz genauso funktioniert.

Abgesehen davon war die „Internationale Surrealismus-Ausstellung“ 1938 in Paris vermutlich der erste „Erlebnis-Event“ unserer Tage. Dieser Schau hat die Kunsthalle mit weitgehend neuem Material einen eigenen Raum gewidmet. Hier präsentiert sich die Fotografie in ihrer anderen Funktion: als Dokument. Und um das Eventhafte in dieser hochinteressanten, aber sehr kleinteiligen Ausstellung nicht zu vernachlässigen, hat man zusätlich eine begehbare Installation von Bühnenbildstudenten aufgebaut, die eine Ahnung des Affronts vermitteln will, den der nur taschenlampenbeleuchtete Besuch einer Ausstellung unter einem tiefschwarzen Himmel einst bedeutet hat.

„Begierde im Blick – Surrealistische Photographie“; Kunsthalle (Hubertus-Wald-Forum). Geöffnet Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr; bis 29. Mai. Information über das Rahmenprogramm unter www.begierde-im-blick.de