„Es gibt keine Wunder“

Die Weitspringerin Bianca Kappler erklärt im taz-Interview, warum sie ganz froh darüber ist,bei der Hallen-EM keine 6,96 m gesprungen zu sein, obwohl diese Weite für sie angezeigt wurde

INTERVIEW FRANK KETTERER

taz: Frau Kappler, wir würden gerne noch einmal über Ihren letzten Sprung bei der EM mit Ihnen reden. Ist das in Ordnung?

Bianca Kappler: Aber sicher. Der war ja nicht so schlecht. Ganz im Gegenteil: Dass mir der Sprung gut gelungen ist, habe ich gleich gemerkt; nur wie weit er genau war, ob es eine neue Bestleistung sein würde und ob die zum Sieg reichen würde, das wusste ich natürlich nicht. Darauf war ich echt gespannt.

Und dann …

… habe ich auf der Anzeigetafel die 6,96 m gesehen und dazu wahrscheinlich ein ziemlich dummes Gesicht gemacht. Für mich war jedenfalls vom ersten Moment an klar, dass das nicht stimmen kann. Deshalb habe ich auch zunächst an einen Zahlendreher gedacht, also dass mein Sprung 6,69 m oder 6,66 m weit war, irgend so etwas eben.

Wie ging es weiter?

Ich bin zum Kampfgericht gegangen und habe denen gesagt, dass ich denke, dass da ein Fehler vorliegt und dass sie das noch mal überprüfen sollen. Leider hat von denen kaum jemand Englisch oder Französisch gesprochen, weshalb die Verständigung einigermaßen schwer war. Da herrschte erst mal ein ziemliches Chaos.

Wie haben die Konkurrentinnen reagiert?

Die waren auch aufgeregt, vor allem jene, die bisher auf den Medaillenrängen lagen. Die haben heftigst mit dem Kampfgericht diskutiert; und ich habe versucht, ein bisschen Ruhe reinzubringen, indem ich gesagt habe, dass ich das Ergebnis auch anzweifle. Das schlimmste war dann aber, dass die uns nach der Dopingkontrolle zunächst auch noch zur Siegerehrung schicken wollten. Da habe ich nur noch gedacht: Um Gottes Willen, die können mich doch nicht für eine Weite ehren, die ich gar nicht gesprungen bin.

Wieso waren Sie sich sofort so sicher, keine 6,96 m gesprungen zu sein?

Weil es in der Leichtathletik keine Wunder gibt. Ich habe einen ziemlich genauen Überblick darüber, was ich leisten kann. Es gibt schließlich verschiedene Parameter, die den Weitsprung bestimmen, die so genannten biomechanischen Daten. Aus denen kann man ziemlich genau berechnen, wie weit jemand im besten Fall springen kann.

Wie weit können Sie derzeit?

Zwischen 6,75 und 6,80 m. Das hat ja auch die anschließende Auswertung der Videoaufzeichnung ergeben: Dass ich bei diesem sechsten Sprung mit den Füßen bei 6,76 m gelandet bin. Leider hatte ich mit dem Po ein bisschen Landeverlust …

Ein positiver Ausrutscher war nicht denkbar?

Natürlich kann man sich mal selbst übertreffen, aber nicht um so viel. Ich weiß doch ganz genau, wie hart ich an mir arbeiten muss, um mich um fünf bis zehn Zentimeter zu verbessern. 30 cm sind da völlig unrealistisch.

Um wie viele Zentimeter haben Sie sich in den letzten Jahren gesteigert?

Im Jahr 2000 bin ich 6,55 gesprungen, 2002 waren es 6,65 m, 2003 6,69 m und 2004 waren es 6,71 m. Meine Verbesserung hat sich vor allem in der Konstanz niedergeschlagen. 2002 bin ich ein einziges Mal 6,65 m gesprungen, im letzten Jahr hatte ich ungefähr zehn Wettkämpfe, die über 6,60 m waren.

Wie viel Zeit investieren Sie für diese zentimeterweise Verbesserung?

Das ist ja seit zwei Jahren mein Beruf – und entsprechend oft trainiere ich. Derzeit bin ich mindestens zwei Mal drei Stunden täglich in der Halle.

Sechs Stunden Training pro Tag für jährlich fünf Zentimeter mehr – lohnt sich das?

In der Leichtathletik braucht es eben eine gewisse Zeit, um Leistung zu entwickeln.

Es gibt aber auch Leichtathleten, die sich von einem Jahr aufs andere um mehr verbessern als um zwei, drei Zentimeter oder Zehntelsekunden.

Mag sein, aber man hat ja bei den Olympischen Spielen in Athen miterleben können, dass da nicht immer mit fairen Mitteln gearbeitet wird. Es gibt leider einen recht großen Teil der Leichtathletik, der durch den Einsatz unerlaubter Mittel beschmutzt wird. Wobei man mit solchen Äußerungen sehr vorsichtig sein muss.

Inwiefern?

Man darf natürlich nicht jede Leistungssteigerung in diese Richtung interpretieren, sondern man muss ganz klar den Einzelfall betrachten.

Das heißt?

Wenn ein Sportler, der über Jahre hinweg immer wieder verletzt war und nicht richtig trainieren konnte, plötzlich beschwerdefrei durch die Saison kommt, dann lässt sich auch eine größere Leistungssteigerung recht einfach und plausibel erklären, nämlich damit, dass er in den Jahren davor ganz einfach sein Potenzial nicht ausschöpfen konnte. Bestimmte andere Dinge aber sind und bleiben einfach unmöglich. Wenn zum Beispiel eine Sportlerin, die immer 6,50 sprang, plötzlich bei 7 m landet, weiß man in Fachkreisen sehr genau Bescheid. Zumal man ja gerade bei Frauen nur genau hinzusehen braucht.

Sie meinen die äußeren Veränderungen?

Genau. Bei einigen ist ganz deutlich eine Vermännlichung der Gesichtszüge zu beobachten. Hinzu kommen starke Akne, teilweise Bartwuchs, manche tragen plötzlich Zahnspangen. Andere wiederum werden innerhalb kürzester Zeit extrem schlank und muskulös. Ich mache ja auch ziemlich viel Krafttraining, aber einfach mal so zehn Kilo Muskelmasse aufbauen, das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist völlig unrealistisch.

Sportler untereinander wissen also recht gut, oder ahnen es doch zumindest, wer da mit unerlaubten Mitteln kämpft und wer nicht?

Ja. Auf jeden Fall.

Wie geht man damit um?

Bei manchen deutschen Leichtathletinnen ist schon Frustration vorhanden. Wir haben in den letzten Jahren schließlich viel Kritik einstecken müssen, obwohl wir ja alles geben und so schlecht gar nicht sind. Und wenn die Bedingungen fairer wären, könnte man die deutsche Leichtathletik bestimmt wieder ganz oben ansiedeln.

Mit Verlaub: So frustriert wirken Sie gar nicht.

Bei mir hält sich das in Grenzen. Zum einen habe ich mich auch so bisher noch jedes Jahr steigern können. Zum anderen bin ich lieber Neunte bei Olympia oder Dritte bei der EM und weiß, dass ich das mit legalen Mitteln zustande gebracht habe. Außerdem will ich ja leben. Es ist mir jedenfalls nicht so wichtig, Olympiasiegerin zu werden, dass ich dafür meine Gesundheit aufs Spiel setzen würde. Dafür ist man viel zu kurz Sportler. Meine Karriere dauert vielleicht noch fünf Jahre, aber ich möchte auch danach noch gesund sein.

So gesehen müssen Sie fast schon froh sein, dass Ihre 6,96 m ein Messfehler waren.

Eigentlich ja. Ich denke zwar nicht, dass es prinzipiell unmöglich für mich ist, so weit zu springen, aber an diesem Tag und mit meinem derzeitigen Leistungsvermögen lag es definitiv nicht im Rahmen meiner Möglichkeiten. Unter diesen Voraussetzungen wäre mir ein Sprung auf 6,96 m viel zu negativ angehaucht gewesen.