Ein bisschen Angst

Der Eurovision Song Contest muss sich heute gegen einen abwesenden Konkurrenten behaupten: Stefan Raabs neue „Bundesvision“. Die größte Sorge der ARD: dass Ralph Siegel siegen könnte

VON JAN FEDDERSEN

Der NDR will von nichts gewusst haben – und bekam es offiziell von Bild mitgeteilt. In seiner Vorentscheidungsshow zum Eurovision Song Contest wird ein Mann als Komponist Platz nehmen, der eigentlich als unerwünscht gilt: Ralph Siegel, 59, dem dieser Wettbewerb eingestandenermaßen ebenso Sucht wie Marktplatz ist. Ohne die Eurovision ist Siegel auch ohne Anbindung an das aktuelle Hitgeschehen.

Aber Siegel („Ein bisschen Frieden“) lancierte sich pseudonym über die Plattenfirma BMG ins Feld – und zwar mit einer Produktion für das Duo Nicole Süßmilch & Marco Matias. Origineller Titel: „A Miracle Of Love“. Seither strahlt er wieder; vorgestern bei Kerner, seit gestern im Foyer des feinen Hotels Adlon am Brandenburger Tor. Und allen, die ihn ansprechen, versichert er, dass er „nur Spaß“ habe.

Genau das bereitet der ARD und ihrem Mitgliedssender, dem NDR, Sorgen: Dass nämlich der Lordsiegelverweser des deutschen Schlagers neuerlich siegen könnte, wie 2003 mit Lou, 2002 mit Corinna May – die jeweils trotz jugendlich orientierter Restkonkurrenz die Fahrkarten zur Eurovision gewannen.

Die siechende, um neue Acts bemühte Musikwirtschaft zog daraus viele Schlüsse – unter anderem den, die ARD und ihr eher zum Floriansilbereisenhaften geneigtes Publikum nicht mehr mit popmusikalischen Hoffnungen zu bedienen: Die zeigte man lieber auf MTV oder Viva vor, am besten gleich bei Stefan Raab. Der wird sich die Show in allergrößter Entspanntheit anschauen können – nicht live wie voriges Jahr, als sein Kandidat Max haushoch gewann. Sondern in Köln, aus der Position eines Rivalen, der neulich auf Pro Sieben seine Idee von Grand Prix auf die Bühne brachte. Sie hieß „Bundesvision Song Contest“, war eine handwerklich meist saubere Kopie des Grand-Prix-Originals und feierte als Triumphatoren die Band Juli mit ihrem Titel „Geile Zeit“.

Die Musikbranche notierte: Quote nicht toll, aber okay. Vor allem unter Jugendlichen ziemlich kredibel. Tanten- und omafreie Ästhetik sozusagen, bar der Gefahr, einem Schellackhelden wie Ralph Siegel über den Weg laufen zu müssen.

Raab und seinem Traum, aus der Bundesvision einen echten Grand Prix zu machen, könnte nichts Besseres passieren als ein Sieg von Siegel: Dann wüsste die Musikindustrie, dass es sich nicht lohnt, junge Musiker mit modischem Appeal und Glaubwürdigkeit in der ARD verbrennen zu lassen, wenn am Ende doch wieder das Hitparadengift gewinnt.

Der NDR hat freilich nicht nur die Sorge um Ralph Siege, und rein menschlich schätzt man sich ja ohnehin sehr. Die Musikindustrie zeigte sich eher zäh willig, die Show zu bestücken. Auch wenn das Publikum seine Freude hat, wenn es am Ende einen Sieger und viele Verlierer gibt: Sänger und Sängerinnen schätzen es gar nicht, mit dem Ruf versehen zu werden, beim Grand Prix unter ferner liefen mitgemacht zu haben: Da muss einer schon Stefan Raab (2000) oder Guildo Horn (1998) heißen, um gewiss zu sein, nicht „abzulosen“. Das bedeutet im Musikerjargon: krass zu verlieren.

Immerhin: Ehemalige Brachialkritiker des Grand Prix sind diesmal mit von der Partie. Die Geschäfte laufen wohl nicht mehr so gut, als dass sich Heinz-Rudolf Kunze und Udo Lindenberg den Einklang mit rockistischen Geschmacksfaschisten noch leisten könnten.

Würdig ergraute Paten

Kunze und Lindenberg sind Paten für zwei Acts, der eine für Allee der Kosmonauten, der andere für Ellen ten Damme. Wirklich marktgängig ist eigentlich nur einer im Feld der zehn Lieder, der 45-jährige Sänger Stefan Gwildis, der ein Lied auf das Grau seiner norddeutschen Heimat besingt.

Voriges Jahr, jenseits von Viva und MTV, verkaufte er mit einer Produktion, die aus eingedeutschten Soulklassikern bestand, 60.000 Exemplare: Der kann singen, der versteht sich auf Entertainment, der ist akzeptabel – vielleicht, weil er sich auch nicht krampfhaft-verstört auf pseudobundesvisionär zu trimmen gedenkt.

Möglich, dass die Quote der ARD heute Abend viel besser wird als es die der „Bundesvision“ von Raab war: Aber das spielt keine Rolle für die Plattenindustrie. Die will ein Umfeld, das nicht muffig wirkt. Immerhin: In der Show kommen auch Stars zum Auftritt – allerdings außer Konkurrenz.

Ruslana beispielsweise, die Ukrainerin, die für die orangene Revolution sang und voriges Jahr die Eurovision gewann. Sie erinnert daran, dass jede Musik nur Unterhaltung ist.