„Preis schlägt Angst“

Das Thema Sicherheit wird im Urlaub zukünftig eine größere Rolle spielen. Auch weil die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd wächst. „Das Szenario, von einem Sicherheitsbereich in den nächsten zu springen, halte ich für sehr realistisch“, sagt der Tourismusexperte Karl Born

INTERVIEW EDITH KRESTA
UND GÜNTER ERMLICH

taz: Der Tourismus hat seine Unschuld verloren. Dafür stehen Bombenanschläge auf touristische Ziele im ägyptischen Luxor, vor der Griba- Synagoge auf Djerba oder in Diskotheken auf Bali sowie Entführungen von Touristen im Jemen, auf der philippinischen Insel Jolo oder in der südalgerischen Sahara. Wo können Touristen heute noch auf Nummer Sicher gehen?

Karl Born: Der Tourismus ist in der Wirklichkeit angekommen. Selbst wenn man zu Hause bleibt, ist man nicht sicher, das beweisen die Anschläge vor genau einem Jahr in Madrid. Auch in einer deutschen Großstadt ist man gefährdet. Nur wenn man auf eine Nordsee-Hallig fährt, tendiert die Wahrscheinlichkeit eines Attentats extrem gegen null.

Kann man überhaupt sichere von unsicheren Reisedestinationen unterscheiden?

Nein, diese Unterscheidung kann man spätestens seit den Terrorattentaten von Bali und Djerba nicht mehr aufrechterhalten. Vor den Anschlägen hätte ich beide Ziele als absolut sicher bezeichnet.

Aber die arabische Welt gilt doch bei Reisenden allgemein als eher unsicherer Ort.

Ja, aber der Umkehrschluss, woanders sei es sicher, den halte ich nicht mehr für zulässig. Passieren kann überall etwas.

Wie hoch ist die Halbwertzeit der Erinnerung nach Terroranschlägen auf touristische Destinationen?

Das ist ein komplexes Thema. Bei Zielgebieten wie Ägypten, die arabische Welt insgesamt, bleiben Terrorattentate länger im Gedächtnis. Im Unterbewusstsein der Urlauber ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort etwas passieren könnte, größer als anderswo. Zwei Anschläge hintereinander bleiben natürlich länger haften als einer. Vor allem hängt die Halbwertzeit der Erinnerung aber extrem davon ab, ob deutsche Touristen betroffen sind, ob es deutsche Tote gibt.

Der Münchner Soziologieprofessor Heinz-Günter Vester stellt eine Analogie zwischen dem Tourismus und der Börse her: Beide seien „hochkomplexe, dynamische Systeme, die kurzfristig sehr störanfällig sind und sensibel auf Veränderungen reagieren, die indessen langfristig recht stabil oder ultrastabil sind.“ Hat Vester Recht?

Im Prinzip hat er Recht. Kurzfristig ist der Tourismus sehr gestört, wobei es einen kleinen Unterschied gibt: Leute, die bereits gebucht haben, ziehen erstaunlicherweise ihre Buchung meist durch, während die Anzahl der Neubuchungen relativ gering ist. Das war auch nach dem 11.September 2001 so. Aber längerfristig ist der Tourismus ein sehr stabiles System, weil das Thema Urlaub, die Lust nach Sonne und das Bedürfnis „Raus aus dem Alltag“ Bestand hat.

Nach dem Anschlag auf Djerba vor knapp drei Jahren sagten Sie voraus, dass sich Reisen in Zukunft „zwischen Hochsicherheitsurlaub und Fatalismus“ abspielen würden. Was bedeutet das genau?

Das Thema Sicherheit wird im Urlaub zukünftig eine größere Rolle spielen. Im Focus wurde mir das Zitat „Stacheldraht um jedes Hotel“ zugeordnet. Aber Stacheldraht habe ich nicht gemeint, sondern Schutzmaßnahmen. Der Tourist legt Wert darauf, Sicherheit zu sehen. Damit bin ich ganz anderer Meinung als der Deutsche Reisebüro und Reiseveranstalter-Verband (DRV).

Was meint der denn?

Der DRV behauptet, dass Sicherheit unsichtbar sein müsse, weil sonst die Touristen wegblieben. Sicherheitsleute vor dem Hotel würden das Urlaubserleben zerstören. Aber die Touristen haben sich längst an Sicherheitsmaßnahmen im Alltag gewöhnt, das erleben wir doch jeden Samstag im Fußballstadion oder auch bei einem großen Boxkampf. Man kommt rein, wird abgetastet, muss durch Sicherheitsschleusen.

Und worin liegt der Fatalismus?

Die Sicherheit, die man sieht, ist natürlich keine Garantie dafür, dass nichts passiert. Dazu kommt die fatalistische Haltung, mir wird schon nichts passieren. Das leite ich ab vom Verhalten der Bürger beim Autofahren. Wir glauben, dass Autofahren gar nicht so unsicher ist, weil wir an unsere Fahrkunst glauben. Die Anzahl der Toten im Autoverkehr ist viel höher als die durch Terroranschläge. Aber wir diskutieren immer nur über die Terrorgefahr und kaum über die Gefahr im Straßenverkehr.

Die Leidtragenden von Terroranschlägen, Entführungen und Naturkatastrophen sind, bis auf die Opfer, die Länder oder Regionen, in denen die Ereignisse stattfinden. Veranstalter buchen ihre Kunden kurzerhand um nach Mallorca oder auf die Kanaren. Die Karawane zieht weiter. Lassen die Veranstalter die Länder im Stich?

Früher ist es immer so gewesen. Der große Reiseveranstalter sagte sich: ich habe fünf Millionen Kunden und im Prinzip ist es egal, wohin sie gehen. Die einzige Ausnahme ist jetzt Südostasien, wo sich Reiseveranstalter zum ersten Mal für ein Zielgebiet engagieren. Die Tsunami-Katastrophe hat enorme Emotionen geweckt, die Spendenbereitschaft wurde ja fast zur Spendenhysterie. Dieser Massenbewegung konnte sich keiner verschließen, auch die Reiseveranstalter nicht. Das ist verwunderlich, weil von der Menge her Südostasien absolut unbedeutend ist.

Warum?

Weil zum Beispiel nur drei oder vier Prozent aller Kunden dort hinfahren. Deshalb ist das Ergebnis einer Befragung, dass der Tsunami nur geringe Auswirkungen auf das Buchungsverhalten hat, auch nicht überraschend. In der ersten Verlautbarung von TUI nach dem Seebeben war sogar von Bagatellbeträgen die Rede. Das Wort hat mich wahnsinnig gestört, weil hier der Blick zur Börse im ersten Moment wichtiger als alles andere.

Die Bilder von den Stränden würden den Reisenden viel länger im Kopf bleiben als die einzelner Terroranschläge, erklärten Sie direkt nach der Tsunami-Katastrophe in Südostasien. Können Sie das begründen?

Bei den Attentaten auf Djerba oder Bali gab es so gut wie keine oder nur unbrauchbare Live-Aufnahmen im Fernsehen. Das Thema war nach wenigen Tagen in den Medien passé. Durch die umfassende Berichterstattung und die Intensität der Bilder über die Flutwelle und die Folgen hatten die Zuschauer – ähnlich wie am 11. September – das Gefühl, live dabei zu sein. Dazu kommt, dass es noch nie 500 tote deutsche Touristen bei einer Katastrophe gegeben hat. Das Thema ist in der öffentlichen Meinung noch lange nicht durch. Auf die Länder in Südostasien wird die Katastrophe noch lange nachwirken. Das sollten Reiseveranstalter nicht unterschätzen, auch wenn Südostasien wegen der geringen Urlauberzahl ein unbedeutendes Zielgebiet für die Veranstalter ist.

Laut Reiseanalyse 2002 der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen finden 49 Prozent der Reisenden ihre „persönliche Sicherheit“ als wichtigsten Faktor für die Wahl ihres Urlaubsziels – noch vor dem „Preis-Leistungs-Verhältnis“. Wird Sicherheit zum gewichtigen Verkaufs- und Buchungsargument?

Vor 2001 lag der Sicherheitsaspekt nie auf den ersten fünf Plätzen, in neueren Untersuchungen liegt sie auf dem dritten, vierten, fünften Platz. Zweifellos ist Sicherheit als Entscheidungsargument für Urlauber inzwischen sehr wichtig geworden. Aber Sicherheit kann den Preis nicht schlagen.

Wieso nicht?

Es ist umgekehrt: Preis schlägt Angst. Das heißt, wenn irgendwo etwas passiert ist, geht der Reisepreis stark runter. Jetzt gibt es für Südostasien Preisnachlässe, die Bild-Zeitung hat von 40 Prozent berichtet. Sobald der Preis weit genug unten ist, reist eine nennenswerte Anzahl von Urlaubern in dieses Gebiet. Angenommen, Neckermann bringt morgen ein Sonderangebot raus, 30 Prozent reduziert, dann sagt sich der Urlauber, so billig komme ich nie wieder hin. Und wenn Neckermann da hinfliegt, wird es schon nicht so schlimm sein.

War der Faktor Sicherheit nicht ohnehin stets ein gewichtiges Argument, eine Pauschalreise zu buchen?

Sicherlich. Pauschalreise und Sicherheit sind Geschwister. Die Pauschalreise suggeriert Sicherheit. Aber die Veranstalter haben in den letzten Jahren das Thema Sicherheit vernachlässigt bei der Kommunikation der Vorteile, die eine Pauschalreise bietet.

Haben Veranstalter die Pflicht, ihre Kunden auch über mögliche Risiken und Gefahren zu informieren?

Das halte ich für selbstverständlich. Vor zehn Jahren machten Veranstalter in den Katalogen Doppelseiten zum Thema Umwelt. Irgendwann wurde Umwelt für die Entscheidung der Kunden unwichtiger, daher gibt es jetzt in den Katalogen nur noch ein Umwelteckchen. Heute müssen Veranstalter ihrer Informationspflicht nachkommen und Sicherheitshinweise in die Kataloge aufnehmen. Ob das allerdings das Reiseverhalten der Kunden ändert, bezweifle ich nachhaltig.

Die Reisebranche kann mit dem Umweltengagement offensiv werben, weil die Umwelt ein wichtiges Kapital des Tourismus ist. Dagegen suggeriert der Sicherheitsaspekt ja immer, dass es auch Unsicherheit gibt.

Aber Sicherheit ist genauso existenziell wie die Umwelt. Wenn die Menschen glauben, dass es irgendwo unsicher ist, werden sie dorthin nicht mehr reisen. Das höchste Gut, das der Veranstalter verwaltet, ist die Gesundheit seiner Kunden. Das ist fast noch wichtiger als die intakte Umwelt im Zielgebiet.

Die Reisewarnungen und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes gelten als Gradmesser für das Gefahrenpotenzial in einzelnen Ländern oder Regionen. Können Sie die alleinige Richtschnur sein?

Nein, bestimmt nicht. Es geht primär um den rechtlichen Aspekt: Wenn ein Veranstalter seine Kunden in ein Land brächte, für das eine offizielle Reisewarnung des Auswärtigen Amts besteht, würde er sich schadenersatzpflichtig machen. Die Reisehinweise des Auswärtigen Amtes wurden immer als objektiv hingestellt. Aber die Hauptaufgabe des AA besteht doch darin, gute Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Ländern zu pflegen und nicht darin, Urlauber vor einem Gefahrengebiet zu warnen. Wenn man eine kritische Bemerkung zu einem Land macht, hat man sofort den Tourismusminister am Hals.

Ein Beispiel bitte.

Nach dem Djerba-Attentat diskutierte man auf der Internationalen Tourismus Börse Berlin heftig, warum das AA einen Reisehinweis zu Djerba veröffentlicht – Achtung bei Reisen zu belebten Plätzen –-, aber nicht vor Reisen nach Israel warnt. Der tunesische Tourismusminister sprach damals von einer „Schweinerei“. Reisen nach Israel haben aber eine politische Dimension und das Auswärtige Amt vertritt die Maxime: Wir werden nie sagen, Deutsche sollen nicht nach Israel fahren. Das kann ich akzeptieren.

In der Regel begnügen sich Reiseveranstalter damit, in punkto Sicherheit auf das Auswärtige Amt und seine Homepage zu verweisen. Reicht der Link zum AA?

Die Veranstalter haben ein großes Interesse, das AA als neutrale Stelle in Anspruch zu nehmen. Diese wurde ursprünglich ja geschaffen, damit Sicherheit nicht zum Wettbewerbsthema zwischen den Veranstaltern wird. Davor lief das Spiel so: Wann warnt Veranstalter A und wann B? Wenn A zu früh warnt, dann reisen alle mit B. Aber beim AA folgt die Reisewarnung immer erst dann, wenn schon etwas passiert ist. Die sind ja auch keine Hellseher. Ich kenne nur einen Fall, wo das AA im Vorhinein einen Hinweis gegeben hat. Vor einem Jahr warnte es vor gewalttätigen Demonstrationen in Caracas, die zwei Tage später in der Tat auch eintraten.

Auf der letzten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Reiserecht wurde diskutiert, ob die Informationspolitik des Auswärtigen Amts genüge oder nicht durch eine unabhängige öffentliche Stelle ersetzt werden müsse.

Ich fände es besser, wenn man eine neutrale Stelle mit den Reisehinweisen beauftragen würde, um so die Abhängigkeit des Auswärtigen Amtes von der Tourismusindustrie zu überwinden.

Der Geheimdienst- und Sicherheitsexperte Udo Ulfkotte wirft Reiseveranstaltern vor, dass sie Urlauber nicht ausreichend auf Sicherheitsaspekte und mögliche Gefahren hinweisen. Teilen Sie Ulfkottes Einschätzung?

Sicherlich müssten Veranstalter ausführlicher auf Gefahren hinweisen. Gerade auch Medien haben wiederholt gefordert, vorne auf die Kataloge zu stempeln: „Achtung, der Gebrauch dieser Ware ist gefährlich.“ Ähnlich wie bei Zigaretten. Das würde aber nichts nützen.

Warum nicht?

Fast alle Raucher rauchen immer noch. Und bei keinem der großen Attentate wurde vorher gewarnt. Niemand wäre auf die Idee gekommen: Achtung, der Besuch einer Diskothek auf Bali kann lebensgefährlich sein. Es hätte auch keiner vor dem Besuch der Synagoge auf Djerba gewarnt. Deswegen konnte der deutsche Urlauber, dessen Sohn beim Anschlag schwer verletzt wurde, auch nicht den Prozess gegen die TUI gewinnen. Er hatte argumentiert, dass dort früher schon Steinewerfer auftraten. Aber es gibt keinen Zusammenhang zwischen Steinewerfern und dem Attentat.

Haben Reiseveranstalter ein Sicherheitsmanagement?

Es fängt langsam an. Studiosus hat als erster Veranstalter einen Sicherheitsmanager eingestellt. Bei der TUI gibt es ähnliche Überlegungen. Über kurz oder lang werden alle Veranstalter einen Sicherheitsbeauftragten ernennen.

Als einziger Veranstalter geht Studiosus offensiv mit dem Thema Sicherheit um, informiert auf seiner Internetseite über „Reisesicherheit aktuell“ und führt zurzeit in über 30 Länder von Algerien über Jemen bis Uganda „aus Sicherheitsgründen keine Reisen durch“. Ist Studiosus der einzige Rufer in der Wüste?

Studiosus ist weit voraus. Das hat Vorbildcharakter, hier sind die Informationen schön gesammelt. Und der Sicherheitsaspekt hat ihnen nicht geschadet, die Kunden haben deswegen nicht bei der Konkurrenz gebucht.

Hat die Reisebranche insgesamt Risiken und Nebenwirkungen des Urlaubs unterschätzt?

Die Reisebranche ist damit, vor allem nach dem 11. September, katastrophal schlecht umgegangen. Sicherheit ist ein Tabuthema gewesen. Immer wenn etwas passiert ist, hieß es sofort: Ist nur eine kleine Delle, hat wirtschaftlich keine Auswirkungen. Das Thema haben sowohl die Veranstalter wie auch der Reisebüroverband lange verpennt. Erst seit einem halben Jahr gibt es ein Umdenken.

Reisen in schwierigen Zeiten – bleibt die Neugier, bleibt die Freiheit auf der Strecke?

Nein, das glaube ich nicht. Aber die Einreise in die USA ist so schwierig geworden, dass einem die Freude vergehen kann. Der Passagier, egal ob Economy, Business oder First Class, nimmt in Kauf, dass er ewig in der Schlange steht und dann vom Einwanderungsbeamten behandelt wird, als ob er nachweislich ein Terrorist wäre. Aus eigener Machtvollkommenheit kann der einzelne Einwanderungsbeamte sagen: Du reist nicht ein. Man wird ein, zwei Tage in eine Zelle gesteckt und dann abgeschoben.

Aber trotzdem boomen zurzeit Reisen in die USA.

Die Urlauber lassen sich von der Einreiseprozedur nicht abschrecken.

Warum?

Wegen der Parität zwischen Dollar und Euro. Die USA sind ja ein tolles Reiseland.

Ein Blick in die touristische Zukunft. Jetten wir im Jahr 2030 von Hochsicherheitstrakt zu Hochsicherheitstrakt?

Das halte ich nicht für ausgeschlossen. Das Konfliktpotenzial baut sich weltweit nicht ab, sondern auf: Der Konflikt mit dem Islam wird nicht in zwei, drei Jahren friedlich beigelegt sein. Die Differenz zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd verschärft sich andauernd. Das Szenario, von einem Sicherheitsbereich in den nächsten zu springen, halte ich für sehr realistisch.