Totales Chaos, große Bildung

MIT CHARAKTER Dada, Drogen, West-Berlin: In der Kommunalen Galerie Berlin erinnert die Ausstellung „Die Umrundung des Horizontes“ an den für seinen exzessiven Lebensstil bekannten Galeristen Jes Petersen

Das Dealen mit Kokain brachte Petersen eine Gefängnisstrafe ein, er sprach von seinem „dritten Bildungsweg“

VON RAIMAR STANGE

Die Galerie Petersen genießt nicht nur in Berlin einen „legendären“ Ruf, ein „Mythos“ gar sei sie gewesen. Jes Petersen, 1936 geboren, 2006 gestorben, arbeitete als junger Mann auf St. Pauli als Türsteher, publizierte dann dadaistische Schriften in Erstauflagen und führte von 1977 bis 1994 seine „Avantgarde-Galerie“. Die habe dafür gesorgt, dass West-Berlin trotz seiner damaligen Insellage „Anschluss an die internationale Kunstszene gefunden hat“. Das zumindest behauptet der Katalog zur Ausstellung „Die Umrundung des Horizontes. Hommage an die Galerie Petersen 1977–1994“ in der Kommunalen Galerie Berlin.

Mehr „gelebt“, überaus „exzessiv“, habe Petersen in seiner Galerie als „gearbeitet“, Letzteres „kompromisslos und unbestechlich“. Klar, dass die Galerie „wirtschaftlich scheiterte“, dafür aber gab es auf den Eröffnungen stets jede Menge „edler Getränke“, Halbwelt und Drogen. All dies riecht nach Kitschgefahr und erinnert an das Klischee vom Galeristen als Bohemien am Rande der Gesellschaft, aber mittendrin im Künstlerleben. Oder handelt es sich hier vielleicht doch um Geschichten mit Geschichte, aus denen sich noch heute lernen lässt? Die Ausstellung „Die Umrundung des Horizontes“ gibt jetzt Anlass, diesen Mythos in Frage zu stellen, sich zu erinnern und zu vergleichen.

Zu vergleichen wäre die Situation damals, als es in West-Berlin knapp 30 Galerien gab und Köln das westdeutsche Zentrum des Kunsthandels war, mit dem Berlin von heute, in dem gut 400 Galerien ihr Glück versuchen.

„Der Künstler ist abwesend“, steht auf einem weißen Sockel zu lesen. Auf ihm liegen ein Paar Herrenschuhe, Socken und Jeans. Diese Skulptur von Thomas Kapielski begrüßt den Besucher in der Ausstellung und dient gleichsam als Sinnbild für das schwierige Unterfangen, mit Hilfe einer Ausstellung Erinnerungsarbeit zu leisten. „Abwesend“ sind ja eben auch der Galerist und seine Galerie. Zu sehen sind vor allem damals ausgestellte Artefakte der Künstler. Können diese Werke, vergleichbar den Kleidern von Kapielskis abwesendem Künstler, einen Eindruck des Verschwundenen evozieren? Im Gästebuch zur Ausstellung jedenfalls freut sich ein Besucher: „Hiermit lebt die alte Zeit wieder auf!“

Ausgestellt nun sind Werke der Wiener Gruppe, mit denen Petersen seine Galeriearbeit begann, Collagen von Gerhard Rühm etwa. Fluxus-Künstler wie Thomas Schmit, Dieter Roth und Dorothy Iannone mit ihren Zeichnungen, Objekten und Collagen nehmen den breitesten Raum in der Ausstellung ein, die Wiener Aktionisten sind mit Günter Brus und Hermann Nitsch vertreten. Dazu kommen vergleichsweise jüngere Positionen wie zum Beispiel Martin Kippenberger, der in der Petersen Galerie 1981 seine erste Galerieausstellung überhaupt hatte, und die Zeichnerin Nanne Meyer. So stellen die meist kleinformatigen Werke ein Programm vor, das sich in einem postdadaistischen Rahmen verorten lässt, in dem Konzept, Trash und Provokation eine so intelligente wie verstörende Dreieinigkeit eingehen. So weit, so gut – aber: Die alte Zeit lebt damit eben noch lange nicht auf. Erinnerungen evoziert die Ausstellung nur bei denen, die damals dabei waren.

Ich mache einen Atelierbesuch in Kreuzberg, bei Nanne Meyer, die ihre Karriere in den 1980er-Jahren in der Petersen Galerie begann. Angesprochen auf ihren ersten Galeristen, fängt sie an zu schwärmen, erinnert sich an dessen „Mischung aus totalem Chaos und großer Bildung“, lobt seinen „guten Blick für junge Kunst“ und stellt schmunzelnd fest: „Die Preise wurden mit Bleistift auf die Wand geschrieben und trotzdem wurde nie wirklich gestritten.“ Meyer erzählt auch von Alkohol und Drogen, von Lesbenpartys, die Jes Petersen als Frau geschminkt besuchen durfte, und von „sonnenbebrillten Typen“ und „krummen Dingern“. Das Dealen mit Kokain brachte Petersen eine Gefängnisstrafe ein, er selbst sprach von seinem „dritten Bildungsweg“. Erst im Gespräch mit Meyer gewinnt das Leben des Galeristen Konturen.

Wenn man die heutige Galerienszene mit der damaligen vergleicht, denkt man schnell im Dualismus von besessenem Künstlerfreund und slickem Kunstverkäufer. So einfach aber ist es nicht, denn längst gehören die an Petersen verehrten Attribute wie sein exzessiver, „künstlernahe“ Lebensstil zu dem Repertoire, das Galeristen heute vor den Augen der Medien zelebrieren, um ihrer Kundschaft glamouröse und ein wenig verruchte Abenteuer zu versprechen. Kalkül tritt so an die Stelle von Charakter. Die Leidenschaft des Galeristen wird Strategie.

■ Bis 19. Juli in der Kommunalen Galerie Berlin, Hohenzollerndamm 176, Di.–Fr. 10– 17 Uhr, Mi. 10– 19 Uhr, So. 11–17 Uhr