Die Anti-Siegel-Aktion

Beim Grand-Prix-Vorentscheid in Berlin siegte Gracia Baur mit ihrem Song „Run & Hide“ – obwohl bis kurz vor Schluss Ralph Siegels Werk „Miracle Of Love“ bei den abstimmenden Zuschauern vorne lag

AUS BERLIN JAN FEDDERSEN

Sie heißt Gracia Baur, kommt aus München, hat eine Zwillingsschwester namens Patricia – was darauf hindeutet, dass ihre Mutter eine große Verehrerin der verstorbenen monegassischen Fürstin, der geborenen Grace Kelly, war. Und diese Grazie hat mit 52,8 Prozent der gut 500.000 SMS- und TED-Voten am Samstagabend den deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest gewonnen.

Kernig und kumpelhaft

Was beweist, dass es für einen solchen Wettbewerb gut ist, wenn man seinen Song bereits einige Zeit zuvor veröffentlicht hat – und mit ihm in den Charts aufsteigen konnte. Gracia ist überdies bekannt aus der ersten „Deutschland sucht den Superstar“-Staffel, in der sie zwar nicht gewann, aber durch ein ausnehmend unexaltiertes, wenig kapriziöses, dafür kernig-kumpelhaftes Wesen auffiel.

Gracia lag nach dem ersten Wahlgang der zehn Lieder mit 16 Prozent der Voten nur auf dem zweiten Platz: Weit vorne lag das Ralph-Siegel-Duo Nicole Süßmilch und Marco Matias mit „Miracle Of Love“.

Eine typische Schnulze

Doch deren Schnulze – eine Siegel-typische Mixtur aus elegischer „Freude, schöner Götterfunken“ und triefendem „Johnny Blue“ – sollte, das war offenbar der Konsens der eher jugendlichen SMS-Wähler, nicht die Fahrkarte nach Kiew zur Eurovision am 21. Mai gewinnen: In einer Art Anti-Siegel-Aktion einigte man sich auf Gracia. Ihr Titel „Run & Hide“, der ein wenig an Bell, Book & Candles „Rescue Me“ erinnerte und sich zugleich der selbstbewussten Choreografie der ukrainischen Grand-Prix-Gewinnerin Ruslana bediente, ist ein so genannter rockiger Song mit rebelloider Geste. Die Haare an den richtigen Stellen Ekstase simulierend zurückgeworfen, der Körper verhalten zuckend, Sinnlichkeit gekonnt zitierend.

Gracia sagte, was sie sagen muss: „Ich freue mich wahnsinnig.“ Und ihr Komponist David Brandes zeigte sich ebenso sehr erfreut. Schön für ihn, dass er die estnische Popformation Vanilla Ninja auch in Kiew zu betreuen haben wird – die startet für die Schweiz. Ruslana zu Gracias Chancen: „Wenn sie in Kiew, so wie ich es in Istanbul getan habe, die Bühne zertrümmert, hat sie eine Chance.“

Verloren gegen Raab

Die ARD – die den Teilnehmern die Platzierungen der anderen acht Lieder erst in zwei Wochen mitteilen wird – hat im Übrigen den Quotenkampf mit Stefan Raab und seiner „Bundesvision“ verloren.

Insgesamt guckten nur 3,56 Millionen Zuschauer (Marktanteil: 11,2 Prozent) zu – das waren mehr als bei Raab, aber nicht in der Zielgruppe der bis zu 49-Jährigen. Offenbar hatte man das klassische ARD-Publikum in Sachen Unterhaltung (Volksmusik plus Frank Elstner) verprellt – und zugleich die Menschen im erweiterten Bravo-Alter nicht begeistern können.