sozialkunde
: Besser beobachten: Eine kleine Geschichte der Soziologie

Was gibt es noch zu beobachten, wenn alle beobachten? Was gibt es für Soziologen zu denken, wenn alle ihr Tun reflektieren?

Auch die Soziologie ist ein möglicher Gegenstand der Sozialkunde. Wie geht es einem Fach, das Anfang des 19. Jahrhunderts mit Auguste Comte zunächst einmal nur das hohe Lob des Fortschritts sang, sich dann jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit Karl Marx mit Erfolg darum bemühte, das Verständnis sozialer Prozesse im wahrsten Sinne des Wortes tiefer zu legen?

Marx war ja der Leuchtturm dieses Faches, indem niemand radikaler als er die Selbstreferenz des Sozialen zu denken versucht hat. Zwar redete er von „Gesetzen“, doch diese waren die Setzungen der Geschichte der Menschen selber, in der Auseinandersetzung mit der Natur des Menschen wie der Natur der Natur, aber eben doch nach den Vorstellungen, die sich aus der Geschichte ergaben und nicht aus Vorgaben anderer, etwa göttlicher Art.

Ein Problem war nur, dass diese Gesetze bei Marx in die Vorstellung der Zwangsläufigkeit der Überwindung des Kapitalismus umkippten. Dem konnten sich Soziologen wie Gabriel de Tarde, Émile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel nicht anschließen. Warum sollte sich die menschliche Geschichte nicht auch weiterhin im Rahmen selbst gesetzter Setzungen abspielen? Die waren ja bereits Bindung genug, wie Max Weber im Rahmen seiner Bürokratiestudien feststellen durfte. Tarde verwies auf den Mechanismus rivalisierender Imitation, Durkheim auf die Arbeitsteilung, Weber auf die Dialektik der Rationalisierung, die die Zwecke nur freigibt, um die Mittel umso zwangsläufiger binden zu können, und Simmel auf eine Tragödie der Kultur, die den Menschen seinen eigenen Erfindungen unterwirft.

Ein düsteres Bild. Aber jetzt befand sich das Fach in jener Schwebe, die Marx ernst zu nehmen und zu kritisieren erlaubte zugleich. Man konnte das Schicksal des Kapitalismus offen lassen und sich gerade deswegen darum kümmern, zu verstehen, wie er gebaut ist und welche Spielräume er enthält. Bald fand man heraus, dass der Name „Kapitalismus“ übertrieben ist. Die Gesellschaft steht nicht nur im Zeichen einer ökonomischen Eigendynamik (Kapitalverwertung), sondern auch einer politischen (Demokratie), pädagogischen (Schulzwang für alle), religiösen (Ethik), wissenschaftlichen (methodischer Zweifel) und nicht zuletzt massenmedialen (Information um jeden Preis), ganz zu schweigen vom Eigensinn der Kultur (wie kann man richtig finden, was andere falsch finden?) und der Technik (Abhängigkeit von der Elektrizität).

Das war das Material, aus dem Talcott Parsons und Niklas Luhmann ihre bis heute unüberbotenen Soziologien entwickelten. In den 50er- und 60er-Jahren explodierte die Soziologie geradezu und ließ keinen Gerichtssaal, kein Klassenzimmer, kein Produktionsverfahren, keine Parlamentssitzung, keinen Familienstreit und keine Behördenregel unbeschrieben. Noch heute verblüfft, wie den Leuten damals die Schuppen von den Augen gefallen sein müssen. In den 60er- und 70er-Jahren formulierte man dazu die passenden Theorien, und dann wurde es still.

Heute fällt die Soziologie kaum noch auf, alle ihre möglichen Überraschungseffekte sind in Praktiken und Diskursen dieser Gesellschaft längst diskontiert. Das hat Norbert Bolz in seinem Buch „Weltkommunikation“ (2001) auf den Punkt gebracht: Die Massenmedien moralisieren besser, die sozialen Bewegungen protestieren besser und Kunst und Kultur ironisieren schneller, als es die Soziologie je konnte. Alle machen genau das, worauf es auch der Soziologie ankam. Sie schauen hin, sie sind dabei, sie legen Zeugenschaft ab.

Aber was bleibt der Soziologie, wenn jeder Hintergrundbericht einer Zeitung, jede Marketingstrategie eines Unternehmens oder einer Behörde, jede gut kuratierte Kunstausstellung mehr soziale Sensibilität an den Tag legen als manch ein Soziologiecurriculum einer staatlichen Universität? Was kann man noch beobachten, wenn alle bereits beobachten? Was gibt es noch zu denken, wenn alle, nicht immer zwar, aber immer öfter, reflektieren, was sie tun? DIRK BAECKER

Der Autor, Soziologe in Witten/Herdecke, schreibt an dieser Stelle regelmäßig über soziologische Themen – immer am dritten Dienstag eines Monats