Total verwildert

Das Luchsprojekt im Harz beglückwünscht sich selbst: Innerhalb von fünf Jahren wurden zwölf kleine Pinselohren in freier Wildbahn geboren. Die Auswilderung gilt damit als geglückt

von Reimar Paul

Der Mann am Telefon war ganz aufgeregt. In einem Waldstück bei Goslar sei ihm beim Wandern ein Löwe oder ein Tiger begegnet, berichtete der Anrufer. Der Mitarbeiter der Nationalparkverwaltung Harz konnte Entwarnung geben. Der Spaziergänger habe vermutlich einen Luchs gesehen.

Seit fünf Jahren läuft das Luchs-Projekt im Harz. Die niedersächsischen Ministerien für Landwirtschaft und Umwelt, die Landesjägerschaft sowie der Nationalpark hatten das Programm zur Wiederansiedlung der Raubkatzen gegen teils hartnäckigen Widerstand beschlossen. Den Bedenken von Jagd- und Wirtsleuten, dass die Luchse unkontrolliert Rehe, Schafe und Ziegen reißen könnten, begegnete die Landesregierung mit Entschädigungszusagen. Für Menschen sind die Raubkatzen mit einer Schulterhöhe bis zu 75 Zentimetern „absolut ungefährlich“, versichert der Nationalpark-Wissenschaftler Ole Anders.

Bisher wurden insgesamt 20 Tiere freigelassen, so gestern der Luchs-Experte Anders in St. Andreasberg. Mindestens fünf der ausgewilderten Katzen sind inzwischen gestorben. Doch die Geburten überwiegen die Todesfälle. Rund ein Dutzend Jungtiere kamen in freier Wildbahn auf die Welt. Nach den Beobachtungen der Wissenschaftler dehnen die Luchse ihre Streifgebiete immer weiter aus. Ein Luchskater zog schon vor zwei Jahren durch das nördliche Harzvorland bis in das Waldgebiet Elm bei Braunschweig. In den Landkreisen Wolfenbüttel und Helmstedt wurden ebenfalls Luchse gesichtet. Auch im Solling beobachteten Förster einen Luchs, der offenbar aus dem Harz abgewandert war und die viel befahrene Autobahn A 7 überquert hatte.

Alle freigelassenen Luchse stammen aus Tierparks aus dem In- und Ausland. Im Harz bleiben sie zunächst etwa zwei Monate in einem vier Hektar großen Eingewöhnungsgehege. Nachweisen lassen sich die Luchse durch Sichtbeobachtungen, Spuren und Risse.

Im vergangenen Jahr gelangen mit Hilfe einer Fotofalle erstmals Bilder einer Luchsin mit drei Jungen. Die Mutter war 2003 ausgewildert worden. „Fotos von wild lebenden Luchsen sind selten, Bilder von Jungluchsen eine Sensation“, sagt Friedhart Knolle von der Nationalpark-Verwaltung. Der Grund: Luchse können außergewöhnlich gut hören und sehen und bekommen sofort mit, wenn sich ihnen jemand nähert. Die Fotofalle war in der Nähe eines von der Luchsmutter erbeuteten und zunächst unter jungen Buchen versteckten Rehs aufgestellt worden.

Im Schutz des Auswilderungsprogramms wurden offenbar auch Luchse illegal ausgesetzt. Ein bei St. Andreasberg eingefangenes Tier habe keinen Chip unter der Haut gehabt, sagt Knolle. Bei einem anderen Luchs sei eine Chipnummer abgelesen worden, die in keinem Zusammenhang mit dem Luchs-Projekt steht. Allen im Rahmen des Programms freigelassenen Luchsen wird ein reiskorngroßer Chip eingepflanzt. Dieser so genannte Transponder ist von außen mit einem Lesegerät ablesbar.

Das Projekt im Harz hat längst Modell-Charakter. Vorhaben für die Wiederansiedlung von Luchsen gibt es auch im Schwarzwald, im Pfälzerwald und in der Sächsischen Schweiz. In den Bayerischen Wald waren die Luchse bereits Ende der neunziger Jahre zurückgekehrt.