Bis zum letzten Funkspruch

taz-Serie Kriegsende (Teil 1): Horst Basemann war Funker der Wehrmacht. Er hielt die Stellung in einem Bunker im Tiergarten – bis zur Kapitulation

VON PHILIPP GESSLER

So schön kann Krieg sein: Horst Basemann spielt die Violine im Leitbunker am Zoo, ein Gefreiter begleitet ihn am Klavier. Es ist Ende März, Anfang April 1945: Die sowjetischen Truppen stehen an der Oder, bereit zum Sturm auf die Reichshauptstadt, sobald genug Soldaten versammelt sind, sobald genug Kriegsgerät herangekarrt ist. Und im Bunker fidelt Basemann vor Alten, Frauen und Kindern, die Schutz suchten vor den Bombardierungen. Bei Sonne sind Spaziergänge im Tiergarten möglich und angenehm. Es ist ein kleines Idyll vor dem Ende des Krieges, den Basemann erlitt von seinem Anfang bis zum Ende.

Dieses Ende erlebt zu haben, ist nichts als Glück. Kein anderer Jahrgang – Basemann wurde 1922 geboren – hat einen so hohen „Blutzoll“ für Führer, Volk und Vaterland abgeleistet. „Wie man so sagt“, schränkt der 83-Jährige bitter ein. Als er vor einigen Jahren einmal mit früheren Schulkameraden aus Pankow ein Ehemaligen-Treffen machen wollte, lebten von 35 Jungens seiner Klasse gerade mal drei – fast alle anderen waren gefallen. Der Euphemismus, der in diesem Wort liegt, wird deutlich, wenn Basemann erzählt, wie er „fallen“ erlebt hat: Etwa bei dem einen Kameraden, dem der Kopf gleich neben ihm weggeschossen wurde, damals bei Nikolajew nahe Odessa. Von seiner Kompanie, 120 Mann stark, überlebten gerade einmal 20.

Basemann selbst wurde auf der Krim bei Sewastopol am linken Oberschenkel verletzt. „Das war mein Glück“, sagt er heute, denn so kam er nach Hause ins Lazarett. Das war im Oktober 1941. Kaum aufgepäppelt, musste er wieder an die Front, wo es ihn zwei Jahre später erneut erwischte. Er verlor ein Auge nahe der russischen Stadt Staraja Russa – da endlich war er nicht mehr „kv – kriegsverwendungstauglich“, sondern nur noch einsetzbar an der Heimatfront.

Die aber kam immer näher. Und Basemann wurde gebraucht, denn er war Infanterie-Funker, die immer seltener wurden, da sie meist vorne an der Front standen. Dort, wo schnell gestorben wurde. Nun also der Bunker im Tiergarten, die Idylle im Frühling für die Zivilisten. Die „Abendkonzerte“, wie Basemann sie nennt, „eine friedliche Ruhe in der Natur und auf dem See“. Sie endet am 13. April 1945: Berlin wird zu einer „befestigten Stadt“ erklärt. Nun werden auch alte Männer und Frauen an der Panzerfaust ausgebildet, 15-jährige Jungen müssen an die Flak, Straßenbahnen werden mit Schutt beladen und als Bollwerk quer über die Straße gestellt. „Enorm viele Offiziere liefen von da an im Bunker herum“, sagt Basemann trocken. „Die Bevölkerung durfte nicht mehr hinein.“

Dass der Krieg verloren ist, weiß Basemann als junger, alter Frontsoldat schon seit Stalingrad. Er will nur noch überleben. An das „Endsieg“-Geschwätz glaubt er nicht, und was Sperren aus Pflastersteinen wie etwa die in der Schönhauser Allee mit der Parole „Lieber tot als Sklav“ gegen einen Schuss aus einem russischen T-34-Panzer ausrichten, weiß er auch – nämlich nichts.

Am 19. April erhält Basemanns Leitstelle am Zoo die letzte Nachricht von den Truppen an der Oder: einen verstümmelten, aber überaus deutlichen Funkspruch: „Alles rennt … und nichts wie weg“, lautet er. Die Front dort ist in Auflösung. Jetzt beginnt das Endspiel.

Basemann beschließt, seinen Eltern in Pankow noch einmal ein paar Vorräte zukommen zu lassen. Eines nachts radelt er heimlich zu ihnen – eine lebensgefährliche Tour, denn er könnte als Deserteur eingestuft und am nächsten Baum aufgeknüpft werden. Seinen Vater sieht er in dieser Nacht das letzte Mal: Er wird nach dem Krieg als einfaches Parteimitglied von den Sowjets in irgendein Lager eingesperrt, wo er stirbt. Genaueres ist nicht bekannt. Das Angebot eines Nachbarn, ihm bei der Fahnenflucht zu helfen, lehnt Basemann ab: Er will „meine Kameraden“ nicht im Stich lassen. Außerdem: „Jeder Russe weiß, dass ein junger Mann Soldat ist.“

Am 22. April werden im Norden und Osten der Stadt Prenzlauer Berg, Lichtenberg und Biesdorf von der Roten Armee beschossen. Die Berliner Morgenpost stellt ihr Erscheinen ein, stattdessen erscheint nun täglich Der Panzerbär. Kampfblatt für die Verteidiger Groß-Berlins. Wenige Tage später beginnt der Kampf um das Regierungsviertel. Sowjetische Panzer beschießen die Luken von Basemanns Bunker. Wenn Flugzeugbomben auf den Bunker fallen, geht das Licht kurz aus, dann arbeiten die Aggregate wieder.

In diesen Tagen erhalten die Funker im Bunker die Nachricht „Deutsche Reichsregierung, bitte kommen“ – aber wer überhaupt noch angesprochen sein könnte, wissen sie nicht mehr. Am 30. April bringt sich Hitler mit seiner frisch angetrauten Frau Eva Braun um. Man bereitet sich auf das Ende vor. Mit seinem Kameraden Georg geht Basemann auf die Bunker-Plattform. Im Schutz der Dämmerung schauen sie in Richtung Charlottenburg, wo bereits viele weiße Fahnen aus den Fenstern hängen.

Im Bunker herrscht unterdessen immer mehr „Weltuntergangsstimmung“, wie Basemann sich erinnert. Endgültig dann, als klar wird, dass er am 2. Mai übergeben werden soll. Ein General erschießt sich in der Nacht zuvor. Basemann und ein Kamerad entdecken in einem Zimmer „Reste einer Orgie“ von SS-Leuten: Weinflaschen, Gläser und Orden auf dem Boden verstreut, Damenschlüpfer hängen über den Lampen. „Die feinen Offiziere der SS, deren Leitspruch ‚Unsere Ehre heißt Treue‘ lautet, haben sich mit ihren Damen abgesetzt“, erzählt Basemann.

Irgendwo liegen vier Offiziere. So besoffen, dass sie nicht mehr ansprechbar sind. In einem anderen Raum verblutet, eng umschlungen, ein Liebespaar, das sich die Pulsadern aufgeschlitzt hat. Von den 15 Funkern im Bunker wollen sich alle geschlossen am 2. Mai um 4.30 Uhr ergeben. Nur der älteste Kamerad, 52 Jahre alt, erklärt, sich erschießen zu wollen – er wolle nicht nach Sibirien. Außerdem sei er Parteimitglied: „Ich mache Schluss – aus der Traum!“ verkündet er. Alle Überredungskünste helfen nichts. Die Truppe macht sich ohne ihn zum Ausgang. Es fällt ein Schuss. Ein Kamerad Basemanns spurtet noch einmal zurück und findet den alten Funker tot: Er hat sich in den Mund geschossen. Auch der jüngste Funker Jochen, gerade 19 Jahre alt, hat sich mit einem Rasiermesser umgebracht. Basemann findet ihn, schließt ihm die Augen.

„Wolle mer net das Licht ausmache“, wirft Fred, ein stiller Schwabe, noch ein. Dann gehen die Funker schweigend die Treppe herunter zum Ausgang. Sie werden empfangen von sowjetischen Soldaten, einige mit asiatischen Gesichtszügen. Sowjetische Kameramänner filmen, wie die Deutschen ihre Gewehre auf einen Haufen werfen. Der Krieg ist aus für Basemann.

Nur noch einmal fällt ein Schuss. Das ist in Spandau, wohin Basemann und die anderen als Kriegsgefangene marschieren müssen. Einige der sowjetischen Soldaten knüpfen Deutschen deren Armbanduhren ab. Als sich ein deutscher Gefreiter dagegen wehrt, dass ihn zwei Russen beklauen, gibt es Geschrei. Ein russischer Offizier kommt herbei und herrscht die beiden Rotarmisten an, vom Deutschen abzulassen. Die aber reagieren nicht. Da zückt der russische Offizier seine Pistole und schießt einem der russischen Soldaten in den Oberschenkel. „Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht erlebt hätte“, sagt Basemann

Heute sitzt Basemann in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung inmitten eines 80er-Jahre-Wohnkomplexes unweit des Autobahnkreuzes Wilmersdorf. Nichts erinnert mehr an den Krieg. Basemann malt ruhige Landschaftsbilder, Fotos von seiner verstorbenen Frau und seinen Enkeln wirken so normal wie friedlich. Drei Jahre war Basemann nach dem Ende des Krieges sowjetischer Kriegsgefangener in Sibirien – aber er redet nicht schlecht über seinen ehemaligen Feinde.

„Verliehene Orden als Soldat, auf die wir stolz waren, sind schon lange Blechmarken einer verführten, verratenen, weggeworfenen Jugend“, sagt Basemann. Er war zuerst „Pimpf“, dann von 14 bis 18 in der Hitlerjugend, zuletzt ein HJ-Führer in Pankow. Kopien von Fotos aus dieser Zeit liegen auf dem Wohnzimmertisch. Darauf sieht man einen Jugendlichen, sichtbar stolz auf seine Uniform. Das größte Foto zeigt ihn als gerade eingezogenen Soldaten. Wie schrecklich jung sieht er aus.