Kluge Köpfe, wenig Moral

Die Max-Planck-Gesellschaft bekennt sich zu ihrer historischen Verantwortung in Berlin und stellt eine Studie zur NS-Vergangenheit vor. Fazit: Viele Forscher arbeiteten freiwillig für das NS-Regime

VON ADRIENNE WOLTERSDORF

Der KZ-Arzt Josef Mengele wusste, wo seine Forschungsergebnisse besonders erwünscht waren: bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) in Berlin. Die Wissenschaftler der Berliner Vorläufer-Organisation der heutigen Max-Planck-Gesellschaft (MPG) waren interessiert an „menschlichem Forschungsmaterial“. Die deutsche Wissenschaftselite arbeitete fleißig an Rüstungsstudien und der Züchtungsforschung von Tieren und Pflanzen für die erstürmten Gebiete.

Dies sind einige der Ergebnisse einer beispiellosen Anstrengung zur Wissenschaftsgeschichte: Nach insgesamt sechsjähriger Arbeit hat ein Forschungsprogramm der MPG gestern offiziell die Resultate seiner Untersuchungen über die Verstrickungen der Berliner Spitzenforscher in die NS-Ideologie und -Politik vorgestellt. Beleuchtet wurde die „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“. Die MPG hatte sich als Nachfolgeorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg lange gescheut, die Verantwortung für deren wissenschaftliche Entgleisungen zu übernehmen.

Im Mittelpunkt der Untersuchung der unabhängigen Historikerkommission standen Politik und Verwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft von 1933 bis 1945, Rassen- und Vererbungsforschung, Rüstungsforschung und Zwangsarbeit an den Instituten der Gesellschaft sowie die agrarwissenschaftliche Forschung im Zusammenhang mit der NS-Expansionspolitik. Auch die Vertreibung jüdischer WissenschaftlerInnen wie Albert Einstein und Lise Meitner wurde untersucht. Besonderes Augenmerk wurde auf die Rolle des Nobelpreisträgers und späteren Präsidenten der MPG, Adolf Butenandt, gelegt. Zusammenfassend lässt sich sagen, so der Präsident der MPG Peter Gruss gestern, dass „man erschüttert ist, welche Art von weichen Übergängen möglich waren, dass Kollegen Dinge getan haben, die für uns heute unvorstellbar sind“.

Insgesamt sei das Wirken von rund 70 Personen untersucht worden, erläuterte Reinhard Rürup, Professor an der TU Berlin und Vorsitzender der unabhängigen Historikerkommission. Allein 20 davon, darunter viele Nobelpreisträger, seien wegen ihrer jüdischen Herkunft zwangsweise aus der KWG ausgeschieden. Oder, wie Einstein und Fritz Haber, wegen mangelnder Unterstützung von alleine ausgetreten.

Die KWG sei, allein an äußeren Indikatoren gemessen, damals „eine Erfolgsgeschichte“ gewesen: großes Budget, großes Ansehen, exzellent vernetzt, so Rürup. Betont werden müsse, dass zu keinem Zeitpunkt von Seiten der NS-Größen Zwang auf die Forschenden ausgeübt worden wäre. Vielmehr schmückte sich das Regime mit einer „unabhängigen“ Ideenschmiede – und die Forschenden mit nahezu grenzenlosen Möglichkeiten. Klar sei auch geworden, erläuterte Projektleiterin Susanne Heim, dass sich die Wissenschaftler ihre Fragestellungen selbst erarbeiteten, sich also selbst in die Interessen des Regimes einbanden. Dabei forschten sie „durchaus auf der Höhe der Zeit“. Ein ideologiebedingter Niveauverlust sei auch im Rückblick nicht festzustellen.

Besonders finster sind die Enthüllungen hinsichtlich der biogenetischen Forschungen. Hier mangelte es den KWG-Mitgliedern aufgrund ihrer zweifelsohne guten Kontakte zum Regime nicht an menschlichen Versuchskaninchen.

Die Ergebnisse des 4,2 Millionen Euro teuren Forschungsprogramms wurden bereits in Auszügen veröffentlicht und in Workshops diskutiert, weitere Publikationen sind in Arbeit. Zum Abschluss veranstaltet die MPG eine dreitägige Konferenz, die bis Donnerstag tagen wird.