Jede Generation erinnert anders

Die taz nrw lud ins Kölner El-De-Haus. 60 Jahre nach dem Kriegsende ging es um die Verdrängung der Zeitzeugen, um den Kampf der 68er mit der Elterngeneration und um überfütterte Jugendliche

AUS KÖLN ISABEL FANNRICH

Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf und besitzen nichts. Was tun? Der ehemalige Edelweißpirat Jean Jülich jedenfalls krempelte nach Kriegsende die Ärmel hoch und schuftete zwölf Stunden am Tag in einem Kölner Kiosk. Da blieb keine Zeit, um über seine widerständigen Aktionen gegen das NS-Regime oder die Zeit der Inhaftierung nachzudenken – geschweige denn, anderen davon zu erzählen. „Bis zur Währungsreform 1949 beherrschte mich die Frage: Wovon lebe ich?“, sagte Jülich bei der Diskussionsveranstaltung der taz nrw „Rückwärts blickend vorwärts schauen: 60 Jahre Kriegsende Köln“, die am Dienstag Abend im Kölner EL-DE-Haus stattfand.

In der ehemaligen Kölner Gestapo-Zentrale stritten unter der Moderation von taz-Redakteur Pascal Beucker neben Jean Jülich auch Historiker und Journalisten über die Bedeutung von Zeitzeugen und die Defizite in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit.

Dass in der Nachkriegszeit die Zeitzeugen lange schwiegen, lag demnach nicht nur an der Schwierigkeit, die belastenden Erfahrungen in Worte zu fassen, sondern auch an der Verweigerungshaltung der Gesellschaft. „Es gab die NS-Vergangenheit nicht“, so spitzte es Horst Matzerath zu, der Historiker und ehemalige Leiter des EL-DE-Hauses. Nach einer kurzen Phase der Erschütterung und des Schuldbewusstseins sei der Verdrängungsprozess „schon 1946 weit fortgeschritten“ gewesen. Adenauer habe durch seine Legende von den vielen Kölner Widerständlern dazu beigetragen, ebenso das in Köln ausgeprägte „katholische Milieu“. So wurden auch die in Köln eingesetzten Zwangsarbeiter 30 Jahre lang vergessen, berichtete Christian Welke von der Projektgruppe Messelager, die vor 16 Jahren ein Besuchsprogramm initiierte.

Erst für die 68er wurde „die Auseinandersetzung mit dem Holocaust identitätsstiftend“, bemerkte die Journalistin und Autorin Kirsten Serup-Bilfeldt. Allerdings kämpfte sich diese Generation ab am Schweigen der Eltern und verharrte im „ungelösten Konflikt“ mit ihnen.

Ein Defizit, das noch heutige Schülergenerationen zu spüren bekommen, wie die 22-jährige Geschichtsstudentin Gesche Schifferdecker über ihre Schulerfahrungen berichtete. „Die Lehrergeneration setzte sich immer mit den Eltern, den Tätern, auseinander. Vorherrschend war die Schuldproblematik, weniger die Inhalte.“ Das habe bei den Schülern zu einer Übersättigung geführt. „Sie wendeten sich wegen mangelnder Identifikation mit den Tätern vom Thema ab.“ Weil die Nazizeit ein solch komplexes Thema sei, sollten in der Schule mehr Zeitzeugen zu Wort kommen, forderte sie. „Die Eindringlichkeit der Schilderungen ersetzt ein halbes Jahr Geschichtsunterricht.“

Kirsten Serup-Bilfeldt stützte die These von der Überfütterung der Schüler: „Die Lehrer werfen sich ins Zeug, um Betroffenheit zu erzeugen und machen Fahrten zu Gedenkstätten“. Dagegen herrsche auf Schülerseite eine „groteske Ahnungslosigkeit“. „Es wird nicht gelernt“, stellte sie fest, „Schüler wollen lieber an schönen Projekten teilnehmen.“ Der Historiker Matzerath widersprach dieser Einschätzung. „Es ist nicht unbedingt eine Frage des Wissens, sondern dass sich die Jugendlichen mit dem Thema so auseinander setzen, dass es zu ihrem eigenen Problem geworden ist“, sagte er. In Projekten könnten sie sich eigene Zugänge zur NS-Zeit suchen.

Anders als die Mehrheit der Podiumsteilnehmer warnte Serup-Bilfeldt vor dem „inflationären“ Einsatz von Zeitzeugen. „Es gibt Zeitzeugen, die sind die geborenen Feinde der historischen Forschung.“ Man müsse sie sich „vorher verdammt gut angucken“. Jean Jülich ließ sich durch diese Äußerung nicht aus der Ruhe bringen. Solange er noch könne, werde er den wissbegierigen Schülern erzählen: „Das ist eine Verpflichtung.“