Heute ist regressiv

Unter dem Titel „Deutsche Musik, Popmusik, linke Musik?“ diskutierten Marvin Alster und Wolfgang Seidel über Entpolitisierung und nationalistische Tendenzen im Pop

Der Verbrecher Verlag und die Jungle World hatten unter der Überschrift: „Deutsche Musik, Popmusik, linke Musik?“ zur Diskussion geladen. Ein spannendes Thema, denn schon länger wird ja im deutschen Pop eine rege Standortdiskussion geführt. Es gibt zahlreiche Sampler mit Titeln wie „Neue deutsche Heimat“, es gab die Diskussion um den Pop-Patriotismus der Berliner Gruppe Mia, die quälende Debatte um die Radioquote hält an.

So saßen Marvin Alster, Autor und Mitbetreiber des Leipziger Veranstaltungszentrums „Conne Island“ und Wolfgang Seidel, ebenfalls Autor, mit dem Moderator Jörg Sundermeier auf dem Podium und wollten der Frage nachgehen, welchen Einfluss die Nation auf die Popmusik und welchen die Popmusik auf die Nation hat. Marvin Alster legte zuerst seine Grundthesen dar: Auf jeden Fall sei Popkultur nicht anders strukturiert als der Mainstream, sie sei ein Spiegel der Gesellschaft und somit auch verschiedener Nationalismen. Als Vertreter des Conne Island richtete er sein Augenmerk verstärkt auf die Band Mia, deren Auftritt im Conne Island 2003 wegen ihrer nationalistischen Inhalte kurzfristig abgesagt worden war. Aber auch das Duo Heppner und van Dyks mit seinem Hit „Wir sind Wir“ sei ein Beispiel für einen neuen völkischen Nationalismus in der Popkultur. Warum gerade unter dem rot-grünen Paradigmenwechsel die kosmopolitische Tradition von Popmusik gebrochen wird, wurde gefragt, und Alster fasste zusammen: „Es gibt keine linke Musik, es gibt keine linke Ästhetik.“

An dieser Stelle machten sich im Publikum und bei der Autorin bereits starke Vergeblichkeitsgefühle bemerkbar. Denn selbst wenn es wirklich keine per se linken Bands mehr gibt, so werden doch bei Bands wie Superpunk und den Goldenen Zitronen immer noch Klassenverhältnisse beschrieben, selbst die Sterne setzen sich mit linken Inhalten auseinander. Was ist mit Bands wie Blumfeld, Tocotronic und Kante, die sich vehement gegen die Vereinnahmung durch sämtliche Nationalismen und Deutschquotenbefürworter wehren? Wird es nicht immer Bands geben, die ihr widerständiges Denken behaupten?

Wolfgang Seidel, der nächste Referent auf dem Podium, war entschieden gegenteiliger Ansicht. Alles, was im Pop mal Utopie war, sei jetzt Schlager geworden, meinte er und erwähnte Bands wie Juli und Silbermond, eben „regressive Musik“, die auch klanglich in der Vergangenheit lebt und sich vor der Welt verkriecht. Selbst „Wir sind Helden“, die eher als „linke“ Band gesehen werden, üben nur vage Konsumkritik und nehmen in Songs wie „Reklamation“ die Rolle des nörgelnden Kunden ein, fand er. Und hatte damit nicht Unrecht.

Während Alster im Lauf des Gesprächs bei seiner recht pessimistischen Einschätzung blieb, dass mit Popkultur emanzipatorisch nichts zu holen sei, gab sich Seidel zum Ende hin optimistischer: „Musik kann immer noch als Vehikel benutzt werden.“ Wie genau das gehen soll, das konnte an diesem Abend auch in vielen Einzelgesprächen später an der Theke nicht geklärt werden.

CHRISTIANE RÖSINGER