Väter und Töchter

Über den Rand der Welt geschlittert: Nicholas Shakespeare flüchtet vor Bruce Chatwin und heilt sich „In Tasmanien“ von seiner Biografenkrankheit
von GERRIT BARTELS

Nach Tasmanien kommen meistens Flüchtlinge, die hier verschwinden wollen

Unter seinen Schriftstellern genießt Tasmanien nicht den besten Ruf. Pete Hay meint, die Insel im Südosten von Australien habe sich mit ihrer Vergangenheit nie ernsthaft auseinander gesetzt; für Peter Conrad besitzt Tasmanien zu viel unaufgearbeitete Geschichte; und Richard Flanegan hat aus der düstersten Zeit der Insel, als diese vor allem eine große Strafkolonie des britischen Empires war, gleich ein ganzes Buch gemacht, den vor drei Jahren auch ins Deutsche übersetzten Roman „Goulds Buch der Fische“. Kein Wunder, dass der englische Schriftsteller Nicholas Shakespeare in seinem Tasmanienbuch „In Tasmanien“ befindet, die Insel sei dieses Rufs und ihrer Abgeschiedenheit wegen lange Zeit nur ein Ort gewesen, an dem „die unterschiedlichsten Flüchtlinge aufkreuzten, die alle nur eins wollten: verschwinden“.

Ein Flüchtling aber war Shakespeare selbst, als er Anfang der Nullerjahre beschloss, sich für einige Zeit auf Tasmanien niederzulassen. Er wollte an einen Ort, den der 1989 gestorbene Schriftsteller und Weltreisende Bruce Chatwin nie gesehen hat, und Tasmanien war so ein Ort. Sieben Jahre hatte Shakespeare an seiner grandiosen, voluminös-detaillierten Chatwin-Biografie gesessen, mit nichts auf der Welt hatte er sich in dieser Zeit so intensiv auseinander gesetzt wie mit Chatwin und dessen kurzen Leben, und nun fühlte er sich „ausgebrannt“ und wollte sich „von der Biografenkrankheit heilen, jenem eintönigen Abgehobensein, das viele Monate im Schatten alter Dokumente mit sich brachten“.

Das paradoxe Ergebnis dieses Befreiungsschlages ist „In Tasmanien“, ein Buch, das Shakespeare auf ein Neues in so manches Archiv dieser Welt führte; ein Buch, das ihn einmal mehr in die Nähe von Chatwin rückt und den Verdacht nahe legt, Shakespeare wolle diesen nun durch radikale Anverwandlung loswerden. Die Assoziation zu Chatwins Erstling „In Patagonien“ liegt nahe, doch verhält sich vieles auch ganz anders: Shakespeare entdeckt sich nicht erst als Schriftsteller, wie einst Chatwin, man kennt ihn als Autor der ausgezeichneten Lateinamerikaromane „Der Obrist und die Tänzerin“ und „Die Vision der Elena Silves“. Und er findet hier auch nicht sein Thema, wie Chatwin in Patagonien, sondern dieses fand ihn, ist doch Tasmanien für Shakespeare eine Art familiäre Angelegenheit: Der Mann, der die 1642 von dem Holländer Abel Tasman entdeckte Insel Anfang des 19. Jahrhunderts kolonisiert hat, Anthony Fenn Kemp, ist sein Urururgroßonkel; und ein anderer Verwandter, der „Lieblingsonkel“ von Shakespeares Schriftsteller-Großvater, ein gewisser Petre Hordern, wanderte 1900 mit Frau und Kindern ebenfalls nach Tasmanien aus, da er im heimischen England seinen Großgrundbesitz mitsamt edlen Viehbeständen durchgebracht hatte.

Nun mag viel literarische Trickserei dahinter stecken, wenn Shakespeare nach und nach erzählt, wie er von seinen Eltern auf die Tasmanien-Connection gestoßen wurde; und Koketterie, wenn er gar von „Lebensmustern“ raunt, die sich währenddessen abzeichnen (es gibt auch Chatwins auf der Insel, die wiederum mal mit den Kemps …). Doch ändert das nichts daran, dass Shakespeare ein sehr unterhaltsames und lehrreiches Tasmanienbuch geschrieben hat; ein Buch, das zugleich Geschichtsbuch, Familienroman, Selbstfindung und literarische Reisereportage ist. In seinem Zentrum stehen die Lebensgeschichten von Kemp und Hordern. Die eine charakterisiert die Besiedlung der Insel, ihre düstere Zeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, versinnbildlicht in der Person Kemps, dieses „schwarzen“ Shakespeare-Schafs. Kemp war ein zupackender, entschlossener Mann, aber auch Schuldenmacher, Saufbold und Halodri, der nichts als sein eigenes Recht kannte. Die Lebensgeschichte von Hordern dagegen ist traurig-anrührend und handelt von dem eher untypischen Verschwinden eines Mannes, der hier einen zweiten Anfang machen wollte, aber scheiterte: bei der Viehzucht, beim Obstanbau, und sich auch sonst nicht zurechtfand. Sinnbildlich hier die Namensmetamorphosen, die Hordern auf der Insel durchgemacht hat, von P. Horadern über P. Orden zu Dern, den letzten verbliebenen Buchstaben auf seinem Grabstein.

Das Schöne an Shakespeares Buch ist, wie er aus den familiären Banden heraus die eigene Geschichte und die Geschichte und Eigenheiten Tasmaniens entwickelt; und wie er als Chatwin-Flüchtling nicht von sich und kaum von Chatwin loskommt, ohne das tasmanische Ganze aus den Augen zu verlieren. Die von den Siedlern irgendwann systematisch betriebene Ausrottung der Aborigines fehlt genauso wenig wie die noch heute stattfindende Suche nach dem an sich seit 1936 ausgestorbenen, von Einheimischen aber immer wieder einmal gesichteten tasmanischen Tiger oder die Bedrohung der Umwelt und des Klimas durch das stetige Abholzen ältester Eukalyptusbäume.

Genauso viel Raum aber nehmen die Geschichten ein, die sich laut einer tasmanischen Historikerin die Einheimischen erzählen, „um sich zu vergewissern, dass wir nicht über den Rand der Welt geschlittert sind“. Da hält der Geschichtenliebhaber Shakespeare gern drauf und erzählt etwa die von der indischstämmigen Schauspielerin Merle Oberon, die sich eine tasmanische Herkunft erfand, von den Tasmaniern aber mit Wonne, Brief und Siegel zur Tochter Tasmaniens erklärt wurde. Ihre unangenehmste Begegnung mit einem Kollegen hatte Oberon übrigens mit dem wirklich auf Tasmanien geborenen Errol Flynn, der mit ihr in tasmanischen Erinnerungen schwelgen wollte.

Oder Shakespeare erzählt die Geschichte der Sträflinge Greenhill, Travers und Pearce, die aus dem Gefängnis ausbrachen, sich in unwegsames Gelände verirrten und sich dann gegenseitig aufaßen. Oder die des tasmanischen Teufels und so genannten Beutelwolfs, eines Artverwandten des Tigers, der mit einem Rostmagen ausgestattet ist und bei einer einzigen Mahlzeit vierzig Prozent seines Körpergewichts aufnehmen kann.

Unspektakulär dagegen, aber mit einer überraschend späten Wendung verläuft das Leben von Ivy und ihrer Schwester Maud, beides Enkelkinder von Hordern und wichtige Informationsspender für Shakespeare. In einem Zeitraum von achtzig Jahren haben sie ihr Zuhause kein Dutzend mal verlassen, und plötzlich ziehen sie noch einmal vom Land in die Stadt, von North Motton nach Ulverstone.

Als Shakespeare sie fragt, ob sie North Motton vermissen würden, negiert das die über 80-jährige Ivy, der Mentalität Tasmaniens gemäß: „Das ist doch Vergangenheit, stimmt’s? Man muss nach vorn schauen. Das ist jetzt unser Zuhause, und wir sind damit beschäftigt, alles so zu machen, dass es uns gefällt.“

Es ist dies eine Antwort, die einem Schriftsteller nicht wirklich gefallen kann. Doch man spürt, wie einverstanden Nicholas Shakespeare ist, und man ahnt, wie er mit der Produktion und dem Ende dieses Buches es doch geschafft hat, Chatwin loszuwerden und sich darauf freut, neue schriftstellerische Arbeiten anzugehen.

Nicholas Shakespeare: „In Tasmanien“,aus dem Englischen von Hans M. Herzog.Marebuch Verlag, Hamburg 2005,500 Seiten, 22,90 €