Vergessenes Erfolgsrezept

Konjunkturprogramme, Steuersenkungen oder Exportsteigerungen sind keine Mittel gegen die Wirtschaftskrise. Notwendig ist eine radikale Kehrtwende in der Lohnpolitik

Nur ein Narr oder ein Interessenvertreter kann erwarten, dass die Bürger heute ihren Konsum steigern

Es muss was passieren in Deutschland. 5,2 Millionen Arbeitslose, kein Wachstum in Sicht und wichtige Wahlen vor der Tür. Exakt zwei Jahre nach der Jahrhundertreform „Agenda 2010“ und fast drei Jahre nach der Hartz-Verkündigung, die Zahl der Arbeitslosen in zwei Jahren zu halbieren, nun der Offenbarungseid: Alles in die Hose gegangen, alles nur Schall und Rauch. Auf ein Neues. Regierung und Opposition sind jetzt sogar gewillt, gemeinsam alle Kraft aufzubringen, um dem Land die Schmach des endgültigen Absturzes zu ersparen.

Nicht, dass man gar nichts gelernt hätte in dem verlorenen halben Jahrzehnt, seit um die Jahrtausendwende die Dotcom-Blase platzte. Immerhin wissen fast alle hauptamtlichen Talk-Show-Redner in Deutschland jetzt, dass es kein Problem mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gibt. Deutschland exportiert wie ein Weltmeister und türmt Leistungsbilanzüberschüsse auf wie zu den Zeiten, als das ostdeutsche Über-die-Verhältnisse-Leben die westdeutsche Sucht, unter den eigenen Verhältnissen leben zu wollen, noch nicht überdeckt hat.

Gelernt haben wir auch, dass es der lahmende Konsum der privaten Haushalte ist, der die Wirtschaft im Vorwärtsdrang bremst. Was sind nicht alles von interessierter Seite für Schlagworte bemüht und für Begriffe erfunden worden, um den „Konsumentenstreik“ zu beschreiben. Von „Geiz ist geil“ über „Käuferstreik“ bis zu „tiefer Verunsicherung wegen mangelnder Reformen“ reichten die zum Teil tiefenpsychologischen Erklärungen des Phänomens, dass der Konsum nicht steigen will.

Dass man in Deutschland noch immer Geld verdienen kann, haben die Unternehmen im vergangenen Jahr gezeigt. Um fast 11 Prozent oder 50 Milliarden Euro hat der Exportschub die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen in die Höhe gejagt, dennoch haben sie nur deswegen mehr Steuern als zuvor gezahlt, weil sie vorher gar keine mehr abgeführt hatten. Dass die Manager am „Erfolg“ ihrer Unternehmen angemessen beteiligt wurden, muss man nicht erwähnen.

Die Arbeitnehmer waren da etwas bescheidener. Effektiv ausbezahlt wurden jedem Beschäftigten im Jahr 2004 im Durchschnitt genau 0,1 Prozent mehr als 2003. Rechnet man die Teuerung von 1,6 Prozent mit ein, hatte der Arbeitnehmer also 1,5 Prozent weniger Kaufkraft in der Tasche. Da trotz kräftig sinkender Reallöhne die Beschäftigung nur ganz leicht um 0,1 Prozent stieg, ist es auch für Nicht-Tiefenpsychologen ohne weiteres zu erklären, warum die Portemonees geschlossen blieben: Es war schlicht nichts drin.

So einfach ist die Diagnose. Nun kommen Regierung und Opposition zusammen, um den Patienten zu operieren. Jeder vernünftige Mensch würde denken, dass man etwas tun wird, um wieder Geld in die Taschen der Bürger zu bringen. Ohne einen deutlichen Zuwachs beim privaten Verbrauch, das haben die vergangenen drei Jahre spätestens gezeigt, kann nichts die Wirtschaft beleben, weder Steuersenkungen noch das berühmt-berüchtigte Konjunkturprogramm, nicht einmal ein riesiger Exportschub wie der des vergangenen Jahres.

Doch weit gefehlt. Die Ärzte um Gerhard Schröder und Angela Merkel halten nichts von Ursachentherapie. Sie machen lieber da weiter, wo sie in den letzten Jahren mit hunderten von Maßnahmen schon erfolglos geschnitten und genäht haben. Die trotz aller Steuersenkungen noch immer zu hohen Unternehmensteuern sind ins Blickfeld geraten, die Bürokratie, die Deutschland seit Jahrzehnten lähmt und natürlich, wie könnte man es vergessen, die unflexiblen 5,2 Millionen Arbeitslosen, die auf Teufel komm raus immer noch nicht die 300.000 offenen Stellen annehmen wollen, die man ihnen mit Hartz IV schon so schmackhaft gemacht hat.

Was immer man der staunenden Nation heute im Laufe des Tages präsentieren wird, es wird nichts an der deutschen Misere ändern. Es wird nur dazu führen, dass man wieder zwei Jahre wartet, bis man die Erfolglosigkeit auch dieses Maßnahmenpakets zur Kenntnis nehmen muss.

Was quer durch alle Parteien und Institutionen bisher nicht verstanden wird oder nicht verstanden werden darf: Seit 1996 haben Politik und Tarifparteien systematisch dafür gesorgt, dass die einfachen Menschen in Deutschland, der durchschnittliche Bürger im wahrsten Sinne des Wortes, keinerlei Zuwachs seines Realeinkommens mehr gesehen hat. Gleichzeitig ist das Risiko, arbeitslos zu werden, fast durchweg gestiegen. Nur ein Narr oder ein Interessenvertreter kann erwarten, dass die Bürger unter solchen Umständen ihren Konsum steigern. Ohne steigenden Konsum wird es aber kein Wachstum geben. Ohne Wachstum gibt es keinen Abbau der Arbeitslosigkeit.

Die Ärzte um Gerhard Schröder und Angela Merkel halten nichts von Ursachentherapie

Horst Köhler hat Recht. „Wir vernachlässigen schon lange das Erfolgsrezept, das der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg Zuversicht und Wohlstand … gebracht hat.“ Wir vernachlässigen, dass eine Nation, die erfolgreich sein will, die Mehrheit der Menschen mitnehmen muss auf den Erfolgspfad, weil sie den Wettkampf zwischen den Nationen auf Dauer sowieso niemals gewinnen kann. Der Blick in die Statistik zeigt: In den Fünfzigerjahren handelten die Gewerkschaften Lohnzuwächse (der gesamten Arbeitskosten, also inklusive der Lohnnebenkosten) pro Stunde aus, die fast 8 Prozent pro Jahr erreichten. Die Kaufkraft der Arbeitnehmer stieg um mehr als 7 Prozent jährlich und der private Verbrauch expandierte real mit fast 8 Prozent pro Jahr. Natürlich legte auch die Produktivität um fast 7 Prozent pro Jahr zu, blieb jedoch hinter dem Reallohnzuwachs zurück.

Um im Bild des Bundespräsidenten für die Fünfzigerjahre zu bleiben: Der VW Käfer lief und lief und lief, weil die Menschen am Wohlstand teilhatten und sich mehr und bessere Autos kaufen konnten. Wenn wir, wie seit Mitte der Neunzigerjahre geschehen, den Menschen die Teilhabe am möglichen Wohlstandszuwachs verweigern, wird genau dies ausbleiben, weil, wie Henry Ford schon wusste, Autos nun mal keine Autos kaufen. Wer weiter Enthaltsamkeit der Arbeitnehmer predigt und nicht erkennt, dass der einseitige Kraftakt des nationalen Gürtel-enger- Schnallens zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ein eklatanter Verstoß gegen die Prinzipien der erfolgreichen Jahrzehnte nach dem Krieg war, wird scheitern.

Wohlgemerkt, es geht heute nicht mehr um staatliche Nachfrage- oder Angebotspolitik. Die Lage ist viel ernster. Deutschland muss das Kunststück gelingen, mitten in der schwierigsten wirtschaftlichen Situation seiner Geschichte, bei 5,2 Millionen Arbeitslosen, aus purer Einsicht in den falschen Weg, eine totale Kehrtwende in der Lohnpolitik hinzulegen. Gefällt sich das Land trotz unglaublicher Exporterfolge weiter in der Rolle des von der Globalisierung in die Not getriebenen armen Schluckers, sind eine offene Deflation und eine wirklich große Krise nicht zu vermeiden. HEINER FLASSBECK