Wachstum durch Diät

Die EU-Kommission will weniger Gesetze. Das nützt den Unternehmen und dürfte dem Umweltschutz schaden

BRÜSSEL taz ■ Bis zu 1 Prozent Wirtschaftswachstum könnte der Abbau von bürokratischen Gesetzeshürden der Europäischen Union bringen. Das erwartet zumindest der EU-Industriekommissar Günter Verheugen. Er teilte gestern der Presse in Brüssel mit, dass sich die Kommission darauf geeinigt habe, unter seiner Federführung bestehende Vorschriften zu entrümpeln und überflüssige Vorschläge zurückzuziehen.

900 neue Gesetze würden derzeit durchs Gesetzgebungsverfahren geschleust, bei mehr als 40 habe es noch nicht einmal eine erste Lesung im Parlament gegeben. Eine Verordnung über die Packungsgröße bei Kaffee zum Beispiel werde nun kassiert. „Dieser Vorschlag ist unnötig, wir brauchen ihn nicht“, sagte Verheugen.

Diese Sperrmüllaktion unterscheide sich völlig von ähnlichen Initiativen unter den Vorgängern des Kommissionspräsidenten José Barroso, Jacques Santer und Romano Prodi, die ebenfalls versprochen hatten, die Brüsseler Gesetze zu entschlacken. „Ich habe der Prodi-Kommission angehört. Von Bürokratieabbau habe ich nichts mitbekommen.“

Nun soll jeder Kommissar in seinem Verantwortungsbereich die Vorschriften darauf hin überprüfen, ob sie überflüssig sind oder zumindest vereinfacht werden können. Freiwillige Vereinbarungen mit der Wirtschaft sollten den Vorzug vor neuen Gesetzen erhalten. Wo Gesetze unumgänglich seien, sollten die Folgekosten für die Wirtschaft parallel mit berechnet werden.

Mit dieser Ankündigung unterfüttert Verheugen die neoliberale Linie der neuen EU-Kommission. Die Marschrichtung für eine Überarbeitung der Chemierichtlinie Reach ist damit vorgegeben. Der deutsche Kommissar erinnerte aber auch daran, dass 80 Prozent der Bürokratiekosten nicht in Brüssel, sondern in den Hauptstädten entstünden. Er hoffe auf einen Nachahmungseffekt bei diesen.

Einen Widerspruch zu seiner Haltung bei der Dienstleistungsrichtlinie, wo der deutsche Kommissar deutsche Befürchtungen dadurch beschwichtigen will, dass er den Text mit Ausnahmen und Klarstellungen weiter kompliziert, wollte Verheugen gestern nicht erkennen. Das Dilemma, das er bei dem sensiblen deutschen Thema Lohndumping verspürt, hätten andere Kommissare bei sich zu Hause mit anderen Themen.

So wird es wohl auch diesmal beim Durchforsten der Bürokratie nicht zu dem angekündigten Kahlschlag kommen. Neue Gesetze aber werden abgespeckt – zum Wohle der europäischen Unternehmen, auf Kosten der Standards für Gesundheit und Umwelt. DANIELA WEINGÄRTNER