berliner szenen Der Kraftbaum

Weihnachten wie Ostern

Seit November letzten Jahres beglückt ein Wechselbäumchen meine Charlottenburger Hausgemeinschaft. Sein Entree hatte es vergangenen Herbst als kleiner Weihnachtstannenbaum im Topf. Die zierlichen Zweige trugen schwer an bunten Holzpferdchen, Glaskugeln und Halbmonden aus Lebkuchenteig. Obendrein war der kleine Baum mit einer Lichterkette umwickelt. Weihnachten ging, Silvester kam. Die Lichterkette blinkte weiter. Der Weihnachtsschmuck blieb bis Heilige Drei Könige dran, dann wurde er gegen Faschingsdeko ausgetauscht. Man sah die Nadeln vor lauter Luftschlangen nicht mehr. Allerdings war das Bäumchen mittlerweile von der rechten in die linke Ecke des Hausflurs gewandert, näher zur Parterrewohnung seiner Besitzerin hin, der alten Hausmeisterin.

Der Geduldsfaden einiger Hausbewohner schien inzwischen jedoch gerissen, denn vor kurzem lag auf dem kleinen Podest zu Füßen dieser hartnäckigen Heimeligkeit im zugigen Hausflur eine dringliche Mitteilung: „Liebe Hausbewohner, der Baum muss bleiben! Denn wie Sie vielleicht gesehen haben, ist das kein Weihnachtsbaum, sondern ein Frühlings- und Kraftbaum. Wenn ich ihn wegräumen muss, kann ich gleich jede Hoffnung aufgeben. Mit freundlichen Grüßen, Ihre Frau P.“

Seit dieser Offenbarung landeten offenbar keine Beschwerden mehr im Briefkasten der Hausmeisterin, denn der Baum steht an seinem Platz wie eh und je. Ungefähr vierzehn Tage nach Aschermittwoch verschwand die Faschingskostümierung des Baums und wurde gegen bunte Ostereier aus Holz und kleine Stoffhasen ersetzt. Die Lichterkette schaltet sich erst gegen Abend an und blinkt weiterhin orangefarben. Was wird Pfingsten bringen? KATRIN SCHINGS