Der letzte Handstreich der Volkskammer

Heute vor 15 Jahren wurde die erste und letzte freie Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik gewählt. Die CDU erhielt die Mehrheit, die D-Mark war gewählt, die Einheit beschlossen. Für die Bürgerrechtler in Ostdeutschland war das ein Debakel, für die Umwelt dagegen war es ein Segen

von UWE RADA

Es war das Debakel für die Demoskopen. Alle hatten sie den Wahlsieg der SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Ibrahim Böhme vorhergesagt. Als am Abend des 18. März 1990 die Stimmen der ersten freien Volkskammerwahl ausgezählt wurden, war klar: Die „Allianz für Deutschland“ hat gewonnen, der CDU-Politiker Lothar de Maiziere wird Ministerpräsident, der bundesdeutsche Kanzler Helmut Kohl stand vor dem größten Triumph seines Politikerlebens – der Wiedervereinigung Deutschlands.

Ein Debakel war die Wahl auch für die aufrechten DDR-Oppositionellen. Sie, die die Wende herbeidemonstriert hatten, wurden nun von den Wendehälsen weggewählt. Stellvertretend für viele kommentierte damals der Publizist Christoph Dieckmann: „Heute haben viele verloren; längst nicht alle wissen es schon, aber sie werden sich umgucken, hoffentlich alle allianzversichert.“

Was Christoph Dieckmann im Trubel der Ereignisse nicht ahnen konnte: Nicht alle haben bei dieser Wahl verloren, vor allem nicht die Umweltschützer. Nach und nach wurde in der Volkskammer nämlich eine schwarz-grüne Mehrheit geschmiedet, die am Ende etwas bewerkstelligen sollte, was der Spiegel „den weltweit größten Ökodeal“ nennen sollte – die Ausweisung von zehn Prozent der Fläche der DDR als Naturschutzgebiet.

Diese „Allianz für die Natur“ setzte sich aus ganz verschiedenen Akteuren zusammen. Da waren zum einen die acht Abgeordneten der Ostgrünen, unter ihnen Ernst Paul Dörfler (siehe Interview) und Matthias Platzeck, die sich Umwelt- und Naturschutzthemen auf die Fahnen geschrieben hatten. Mit dabei war auch der Greifswalder Ökologe Michael Succow, der es unter der Regierung de Maiziere zum stellvertretenden Umweltminister gebracht hat. Succow war Mitglied der LDPD, für die er auch in die Volkskammer gezogen war. Im Bunde waren zudem die Umweltschützer Hannes Knapp, Lebrecht Jeschke und Matthias Freude, der heutige Leiter des Brandenburger Landesumweltamtes. Westdeutscher Bündnispartner beim Ökodeal war CDU-Umweltminister Klaus Töpfer.

Mit welcher grünen Energie die ostdeutschen Umweltschützer zu Werke gingen, beschrieb der Journalist Horst Stern später so: „Hannes Knapp reiste zu Hannes Biebelriether, dem Direktor des ältesten deutschen Nationalparke, in den Bayerischen Wald und machte sich schlau, was die Regularien von Großschutzgebieten anging.“

Sein Mitstreiter Jeschke unterdessen, so Stern, „eilte nach Bonn zu Klaus Töpfer, der sich von der Euphorie der vier anstecken ließ und seine Hausjuristen anwies, den Text der Schutzgebiete wasserdicht zu machen“. Als die Hausjuristen Jeschke fragten, wie groß denn die Nationalparks sein sollten, habe der geantwortet: „Na, groß eben!“

Mit Peanuts hat sich das ostdeutsche „Quartett“, wie es Stern anerkennend nannte, tatsächlich nicht zufrieden gegeben. Zu den elf geplanten Großschutzgebieten in Ostdeutschland gehörten mit dem Darß, dem Jasmunder Buchenwald auf Rügen, der Müritz, dem Harz und der Sächsischen Schweiz gleich fünf potenzielle Nationalparks. Noch einmal Horst Stern: „Dieses Quartett steckte über einer Landkarte der DDR die Köpfe zusammen. Sie markierten die Grenzen der fünf Landschaften und beschlossen, sie sich in den Wirren der Wende als Nationalparke unter den Nagel zu reißen.“ Zu den Nationalparks hinzu kamen sechs Biosphärenreservate, darunter der Spreewald und Schorfheide-Chorin in Brandenburg.

Kaum hatte das „Nationalparkprogramm der DDR“ im Spiel über ostdeutsche und westdeutsche Banden Gestalt angenommen, ging es in die politische Entscheidung. Dabei drängte die Zeit. Um noch in den Einigungsvertrag zu kommen, musste der Gesetzentwurf am 12. September 1990 dem DDR-Ministerrat vorgelegt werden. Die Behörde von Succow hielt das Tempo. Doch als der Ministerrat am Morgen des 12. September zusammenkam, stand alles auf der Kippe. In seiner „Chronik der Wende“ berichtete damals der ORB: „Der Staatssekretär des Landwirtschaftsministeriums moniert, dass keine Zeit gewesen sei, die Vorlage für das Nationalparkprogramm zu beurteilen. Kurzerhand wird der Tagesordnungspunkt gestrichen. Es gelingt jedoch, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Die Ministerratssitzung endet dennoch ohne einen Beschluss, da der Umweltminister in der Volkskammer den Beschäftigten des Unternehmens SERO Rede und Antwort stehen muss. Bei seiner Rückkehr geht der Ministerrat gerade auseinander. Es gelingt ihm noch einmal, alle Minister zu versammeln und das Nationalparkprogramm in buchstäblich letzter Sekunde verabschieden zu lassen.“ Die Volkskammer schloss sich dem Votum schließlich auf ihrer letzten Sitzung vor der Einheit am 3. Oktober an.

Ostdeutschland als Avantgarde? Nirgendwo traf dies mehr zu als beim Umweltschutz. In nur sechs Monaten waren zehn Prozent der Fläche der DDR zu Nationalparks, Biosphärenreservaten oder Naturparks erklärt worden. Um den westdeutschen Nationalpark Wattenmeer unter Schutz zu stellen, hatte es 16 Jahre gebraucht.

Und heute, 15 Jahre später? Vieles ist erreicht, meint der ehemalige grüne Volkskammerabgeordnete Ernst Paul Dörfler. Von Avantgarde aber kann keine Rede mehr sein. Im Koalitionsentwurf mit der CDU ließ der Brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD), der seinerzeit mit Dörfler zur grünen Fraktion gehörte, einen entscheidenden Passus streichen. In Sachen Umweltschutz, so Platzeck, wolle man Bundesregelungen künftig nicht mehr überschreiten.