Keine Kompromisse

Oskar Lafontaine hat eine „Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft“ publiziert. Darin zeigt er sich wie immer: witzig, scharfsinnig, maßlos

VON FRANK LÜBBERDING

Wer ist Oskar Lafontaine? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten, als man leichthin denkt. In seinem neuen Buch „Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft“ versucht er sich mal als Analytiker, mal als Publizist und mal sogar als Politiker.

Jede dieser Rollen hat ihre Vorteile: Analytiker können unabhängig vom politischen Standort des Lesers anregend sein. Intelligenz ist schließlich keine Frage der Übereinstimmung mit der eigenen Meinung. Publizisten bringen gesellschaftliche Stimmungslagen kritisch auf den Punkt. Politiker hingegen verraten etwas über ihr zukünftiges Handeln.

Lafontaines „Politik für alle“ ist etwas ganz anderes – nämlich ein Gewaltmarsch durch alle relevanten Politikfelder – von der Wirtschafts- und Sozialpolitik bis zur Außen- und Europapolitik. An klaren Aussagen mangelt es nicht: Lafontaine ist gegen den Beitritt der Türkei zur EU, für die Einführung der Bedürftigkeitsprüfung beim Arbeitslosengeld I, will den USA die Nutzung ihrer Standorte im Kriegsfall untersagen, befürwortet ein restriktives Zuwanderungsrecht, plädiert für die Bürgerversicherung. Außerdem will er die internationalen Finanzmärkte umgestalten, die UNO handlungsfähig machen, den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt reformieren. Die Liste ist noch unvollständig.

Der Autor hat seine politischen Ziele am Ende des Buches zum Glück in eine tabellarische Kurzform gebracht. Sonst könnte die LeserIn, atemlos von der Lektüre, glatt etwas vergessen. Kein Analytiker traute sich in einem Buch so viele Themen auf einmal anzufassen – die Wirtschaftspolitik wäre allein schon den Schweiß der Edlen wert. Kein Publizist käme auf die Idee, seine Erkenntnisse und Eindrücke tabellarisch zusammenzufassen. Er sagt seine Meinung, verkündet aber kein politisches (Partei-)Programm.

Für einen aktiven Politiker wäre der Ansatz allerdings sinnvoll. Er formuliert seine politischen Ziele und begibt sich dann daran, das zu tun, was man seit Max Weber das mühselige Bohren dicker Bretter nennt. Weber forderte zudem auch Leidenschaft und Augenmaß. Diese Eigenschaften gelten nicht gerade als Stärken des Ex-SPD-Chefs.

Nun ist Oskar Lafontaine kein aktiver Politiker. Der Mann war Parteivorsitzender und Bundesfinanzminister. Wer, wenn nicht er, hatte jemals die Chance zur Umsetzung seiner politischen Ziele? Man kennt Lafontaines Antwort. Ihn und Bundeskanzler Schröder trennten politische Welten. Er kämpfte gegen den Neoliberalismus. Der andere war dessen williges Werkzeug. Zwischen beiden Positionen hätte es keinen Kompromiss gegeben. Also musste Lafontaine gehen.

Nun macht er deutlich, was der SPD heute fehlt: Die Leidenschaft für das soziale Engagement. Man hört ihn reden, wenn man das Buch liest. Zu Recht karikiert er mit beißendem Spott das Meinungskartell der Kostensenker und ökonomischen Einfaltspinsel. Er zeigt, wie die Neoliberalen Sozialabbau und Umverteilung von unten nach oben als den Königsweg zur Lösung unserer Probleme propagieren – ohne ein Problem zu lösen. Gleiches gilt für seine Kritik an dem orwellschen Neusprech der Neoliberalen und dem Wertewandel in dieser Gesellschaft. Wenn von Eigenverantwortung die Rede ist, meint man nichts anderes als den darwinistischen Kampf der Starken gegen die Schwachen.

Lafontaine kritisiert mit guten Argumenten die fehlende strategische Perspektive der Regierung. Dabei ist Schröder keineswegs nur ein williges Werkzeug. Es ist viel schlimmer: Ihm fiel ganz einfach nichts Besseres ein, als die Angebote der Neoliberalen zu übernehmen.

Dafür ein Beispiel. Lafontaine schildert die ökonomische Wirkungslosigkeit der Arbeitsmarktreformen in einem depressiven binnenwirtschaftlichen Umfeld und verweist auf die Erfahrungen anderer Nationen. Dort hat man solche einschneidenden Reformen mit einer entsprechenden Konjunkturpolitik begleitet. Die Flexibilisierung von Arbeitsmärkten braucht dieses konjunkturelle Umfeld. Wer die Sozialausgaben kürzt – und damit Einkommen reduziert –, muss diesen Nachfrageausfall kompensieren. Wer mit verschlechterten Sozialstandards die Motivation zur Arbeitsaufnahme erhöhen will, so die neoklassische These, muss für entsprechende Jobs sorgen. Ohne Jobs nutzt die Motivierung nichts. Im Gegenteil, sie führt lediglich in den ökonomischen Niedergang.

Lafontaine verweist hier auf amerikanische Ökonomen wie Paul Krugman. Sie halten den makroökonomischen Dogmatismus ihrer deutschen Kollegen für falsch. Allerdings hielten sie die deutschen Arbeitsmarktreformen für richtig. Lafontaine nimmt die amerikanische Debatte genauso verkürzt wahr wie die zu Recht kritisierte deutsche Diskussion.

Der Publizist Oskar Lafontaine hat Witz und bisweilen einen scharfen Verstand. Der Analytiker so seine Schwächen. So schreibt er von Gustav Stresemanns Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise in den Dreißigerjahren. Leider ist Stresemann jedoch am 3. Oktober 1929 gestorben – also vor Ausbruch der Großen Depression. Das sollte man zwar nicht überbewerten. Aber für Lafontaines teils unpräzise Analysen ist dieser Fehler kennzeichnend.

Es bleibt der Politiker. Er braucht Ziele und Leidenschaft. Das unterscheidet ihn nicht vom Analytiker oder Publizisten. Aber seine Wirkung entscheidet sich an seiner Durchsetzungsfähigkeit. Deshalb forderte der Soziologe Max Weber Augenmaß. Aber Oskar Lafontaine ist maßlos.

So wäre es ein beispielloser Kraftakt, das deutsche Gesundheitssystem in seinem Sinn zu reformieren. Von der UNO oder den Weltfinanzmärkten gar nicht zu reden. Lafontaine hat selbst seine Zweifel an der Reform dieses im internationalen Vergleich läppischen Problems. Doch er bietet keine strategische Perspektive für die Durchsetzung an. Strategie bedeutet in unserem politischen System eben mehr als Ziele und Leidenschaft zu besitzen. Man muss Prioritäten setzen können, Bündnispartner in allen gesellschaftlichen Gruppen suchen, unterschiedliche Interessen vereinen und die Bereitschaft zum Konflikt mit der Fähigkeit zum Ausgleich verbinden.

Das alles konnte Lafontaine schon im Bundeskabinett nicht. Ganz im Gegensatz zu Gerhard Schröder. Oskar Lafontaines Scheitern hatte hier seinen Grund – und nicht in Schröders Einfallslosigkeit. Oskar Lafontaine ist sich in seiner Maßlosigkeit als Politiker treu geblieben. Das macht das Buch deutlich. Es hat für die deutsche Linke eine gewisse Tragik: Ein Lafontaine mit Leidenschaft und Augenmaß hätte viel erreichen können.

Oskar Lafontaine: „Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft“. 304 Seiten, Econ, München 2005, 19,95 Euro