jugend liest
: Überall Tiere

Wenn man sich regelmäßig mit Kinderbüchern beschäftigt, dann erfährt man oft erstaunlich wenig über Kinder. Auch die Bücher treten häufig in den Hintergrund, weshalb man leicht vergisst, dass Kinderbuchkritiker Literaturkritiker sind. Eher schon komme ich mir wie ein angehender Zoodirektor vor. Tiere, überall Tiere! Was sie essen, wo sie schlafen, wen sie lieben und wen sie hassen, was sie denken, wovon sie träumen, welche Abenteuer sie bestehen und welche Heldentaten: darüber weiß ein Kinderbuchkritiker alles. Kinderbücher sind ja vor allem Tierbücher, und besonders zum österlichen Hasenfest frage ich mich, ob es denn gar keine tierfreien Zonen in der Kinderliteratur mehr gibt.

Aber ganz selten kommt es doch vor, dass ich denke: was für ein wunderbares Tierbuch! Und weil das so rar ist, ist es mir dann auch egal, wenn das Buch schon hundert Jahre alt ist und „nur“ ein neu aufgelegter Klassiker. Zumal Harry Rowohlt der Übersetzer von „Der Wind in den Weiden“ ist. Die Hauptrollen darin spielen ein Maulwurf, der sich das erste Mal in seinem Leben ans Licht wagt, eine Dachs, ein Kröterich und eine abenteuererprobte Wasserratte. Wenn sie gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen, liegt darüber der Zauber des ersten Mals: das erste Mal einen Fluss überqueren, sich im Wald verirren, einen Dachs treffen, Freundschaft schließen. Das erste Mal schnuppern, wie purpurnes Pfennigkraut riecht und den Weidenröschen lauschen, „zärtlich und schmachtend, ganz wie eine rötliche Wolke bei Sonnenuntergang.“

Lauter Heimaterkundungen, die allmählich so etwas wie ein Heimatgefühl entstehen lassen, während gleichzeitig das Fernweh wächst, während das Nette, Warme plötzlich im Grotesken endet. Illustriert hat das Buch übrigens Ernest H. Shepard, der Zeichner von Pu, der Bär.

Auf eine ganz und gar andere Art großartig ist der neue Roman von Jutta Richter. „Hechtsommer“ ist eine reine Menschengeschichte, aber Tiere spielen darin eine wichtige Rolle. Allerdings mit dem Unterschied, dass die Tiere auch wirklich Tiere sind: Fische, die nicht sprechen können, sondern sprachlos am Haken hängen und in ihrer Todesangst „schleimen“, dass es kaum auszuhalten ist. Was fühlt ein Fisch? Blöde Frage, findet Daniel. Er will den Hecht am Haken. Alles andere ist „Babykacke“.

Doch eigentlich erzählt Jutta Richter, die für diesen Roman im April den katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis erhält, mit „Hechtsommer“ noch eine völlig andere Geschichte. Sie handelt von der engen Freundschaft zwischen einem Mädchen und zwei Brüdern aus der Nachbarschaft, von den Zankereien des Mädchens mit ihrer Mutter, von einem Sommer, der endlos schien und mit dem Krebstod von Gisela, der Mutter von Daniel und Lukas, schrecklich endet. Kein dramatischer Tod ist das, sondern ein schleichender, und auch im Leben der Kinder verschwindet Gisela allmählich, je mehr die Krankheit fortschreitet. Am Ende sind beide tot, die Mutter und der Hecht auch. Doch das Leben geht dann einfach so weiter: „Zwei Libellen tanzten vorbei, ein Wasserhuhn gründelte und ein Schwarm kleiner Rotfedern sonnte sich dicht unterm Wasserspiegel.“

Alles gibt es in diesem Roman gleichzeitig: die Wahrheit und die Lüge, den Schmerz und die Freude, die Fürsorglichkeit und die Abweisung, den Tod und den Sommer. Und als der Sommer vorbei ist, ist auch die Kindheit vergangen, das ahnt man schon. Doch weiter geht es trotzdem, auch wenn der tote Hecht im Staub liegt. Einfach so, weil niemand ihn mehr will. Ein trauriges, ein tröstendes Ende, weil es mit Menschen wie Tieren gnadenlos ehrlich ist. ANGELIKA OHLAND

Kenneth Grahame: „Der Wind in den Weiden oder Der Dachs lässt schön grüßen, möchte aber auf keinen Fall gestört werden“. Aus dem Englischen von Harry Rowohlt. Illustriert von E. H. Shepard. Verlag Kein & Aber, Zürich 2004, 240 Seiten, 29,90 Euro Jutta Richter: „Hechtsommer“. Carl Hanser Verlag, München 2004, 123 Seiten, 12,90 Euro