Haareschneiden reicht nicht aus

Ministerpräsident Steinbrück und EU-Kommissar Verheugen fordern eine unternehmensfreundliche Industriepolitik. Dies sei die Voraussetzung für Wohlstand in Europa. DGB: Menschen ernst nehmen

AUS DÜSSELDORFULLA JASPER

Nordrhein-Westfalens Sozialdemokraten waren in den letzten Monaten nicht gut zu sprechen auf die EU-Bürokraten in Brüssel – Antidiskriminierungsrichtlinie, Chemikalienverordnung, Dienstleistungsrichtlinie hießen die bürokratischen Schlagwörter, über die plötzlich jeder sprach. Im Dschungel aus umzusetzenden Paragraphen und Vorschriften, so befürchtete so manch einer in der Düsseldorfer Koalition, werde man Wirtschaftswachstum und – schlimmer noch – den Wahlsieg im Mai aus den Augen verlieren.

Da kam es gerade recht, dass Europas neuer „Superkommissar“, der für Industriepolitik zuständige SPD-Politiker Günther Verheugen, gestern nach Düsseldorf kam, um seine Parteifreunde am Rhein zu beschwichtigen und sie von europäischen „Perspektiven für Wachstum und Beschäftigung“ zu überzeugen. Kein leichtes Unterfangen, hatte Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) doch erklärt, bei der Umsetzung der Vielzahl von EU-Richtlinien könne es passieren, dass man irgendwann nicht mehr „staatsmännisch auftritt, sondern einen dicken Hals hat“. Der Ministerpräsident pochte darauf, dass „Wachstum und Beschäftigung“ aller höchste Priorität innerhalb der europäischen Politik haben müsse.

Steinbrücks größtes europapolitisches Sorgenkind ist derzeit wohl die neue Dienstleistungsrichtlinie. Mit ihr sollen grenzüberschreitende Dienstleistungen erweitert und vereinfacht werden. Vor allem die Diskriminierung ausländischer Anbieter gegenüber einheimischen soll auf diese Weise verhindert werden. Kritiker befürchten jedoch eine Aufweichung bisheriger Qualitäts- und Lohnstandards. Steinbrück erklärte, es dürfe nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung zu Lasten heimischer Unternehmen kommen. „Das kann ich, das können wir uns nicht leisten.“ Gleichzeitig warnte er davor, bei der Diskussion um Dienstleistungsvorschriften die Industriepolitik aus dem Auge zu verlieren: „Das Bruttosozialprodukt wird nicht allein durchs Haareschneiden erwirtschaftet“, eine gesunde Industrie sei Voraussetzung für Wohlstand.

Auch Verheugen räumte ein, dass die Kommission die Industriepolitik in der Vergangenheit zu sehr vernachlässigt habe. Europa könne seiner globalen Verantwortung aber nur gerecht werden, wenn es eine „gesunde industrielle Basis“ habe. Der Kommissar kündigte an, dass mit der Neuauflage der 2000 beschlossenen „Lissabon Strategie“ neue Anstrengungen unternommen werden sollen, um Europa für den globalen Wettbewerb fit zu machen. Er plädierte für eine „unternehmensfreundliche Politik“, die es insbesondere den kleinen und mittelständischen Unternehmen ermögliche, zu wachsen und Arbeitsplätze zu schaffen. „Das beste Instrument gegen soziale Ausgrenzung und Diskriminierung ist es, den Leuten die Chance auf einen Arbeitsplatz zu geben.“

Bei aller Übereinstimmung mit den Vorstellungen Steinbrücks konnte sich aber auch Verheugen einen kleinen Seitenhieb auf die Europapolitik des Landes nicht verkneifen. Mit Blick auf die von Steinbrück beklagte Überregulierung durch EU-Richtlinien erwiderte er, der Bund und die Länder hätten jederzeit die Möglichkeit, schon vor Verabschiedung der Richtlinien auf die Entwürfe Einfluss zu nehmen.

Sozialkritische Stimmen kamen an diesem Tag vor allem aus dem Gewerkschaftslager. Walter Haas, Vorsitzender des DGB-Bezirks NRW, erklärte, er teile zwar den unternehmensfreundlichen Politikkurs der Kommission, wenn damit auch die Arbeitnehmer gemeint seien. Gleichzeitig mahnte er jedoch: „Wenn Europa gelingen soll, dann müssen wir auch die Menschen und ihre Ängste ernst nehmen. Dies ist bisher in keiner ausreichenden Weise geschehen.“