Der Vater von Kaltem Krieg und Marshallplan

George F. Kennan, vor 60 Jahren Architekt der neuen Strategie der US-Außenpolitik, ist mit 101 Jahren gestorben

Keiner hatte die Warnungen des zweiten Mannes in der US-Botschaft in Moskau hören wollen. Schon 1944 hatte George F. Kennan von „Feindschaft und Misstrauen der politischen Kreise uns gegenüber“ gesprochen. Doch US-Präsident Roosevelt befand sich auf Freundschaftskurs mit den Sowjets, der Blick war auf den gemeinsamen deutschen Feind gerichtet. Am 22. Februar 1946 entschied sich Kennan schließlich, ein Telegramm an Washington zu schicken. Der Anlass: Die Sowjets hatten sich geweigert, der Weltbank und dem Währungsfonds beizutreten. In dem Telegramm hieß es klipp und klar: „Die Sowjets sind resistent gegen Argumente, sie hören nur auf Gegendruck.“ Das schlug ein wie eine Bombe. Damit war Kennans „öffentliche Einsamkeit“ zu Ende, wie er später sagte. Und er wechselte aus der zweiten Diplomatenreihe zum Chefstrategen des Kalten Krieges.

Nun, als Berater des Pentagons und des Weißen Hauses, schärfte Kennan die Waffen der Diplomatie: Der Kommunismus sollte durch politischen Druck und verdeckte Aktionen eingedämmt werden – unter striktem Verzicht auf offene Gewalt. Zusammen mit Außenminister George C. Marshall entwarf Kennan Ende der 40er-Jahre den milliardenschweren Marshallplan zum Wiederaufbau Europas. Seine Strategie eines „politischen Krieges“, dargelegt in dem berüchtigten „Artikel X“ von 1947, führte auch zur Gründung der Central Intelligence Agency (CIA). Viele Konflikte in Afrika und Asien waren Ergebnis dieser „politischen“ Kriegsstrategie.

Doch Kennan erschrak über die globalen Folgen des Kalten Krieges. Deshalb äußerte er sich gegen ein Engagement der USA in Indochina. 1966 forderte er im US-Senat den Rückzug der US-Truppen aus Vietnam. Seine Strategie: „Wir müssen uns zurückziehen – nicht um Isolationisten zu werden, aber um gute Diplomatie betreiben zu können.“ Doch da war die Zeit der Kennan-Diplomatie schon vorbei. 1953 hatte ihn John Foster Dulles, Außenminister unter Präsident Eisenhower, aus dem auswärtigen Dienst entlassen.

Kennans Kritik zu dieser Zeit wandte sich gegen die ganze Hysterie: gegen atomare Aufrüstung und den McCarthyismus, der anders Denkende gleich zu Verrätern machte. Kennan hatte sich gewandelt. 1975 sagte er, die Strategie des politischen Krieges sei der „größte Fehler, den ich jemals gemacht habe“.

Mit Ausnahme einer kurzen Botschaftermission unter Präsident John F. Kennedy 1961 arbeitete Kennan seit 1953 als Wissenschaftler. In vielen preisgekrönten Büchern wies er die USA immer wieder auf ihre besondere Rolle hin: „Ein Amerikaner sollte nach vorn gucken wie ein einsamer Mann auf dem Gipfel eines Berges“, sagte er einmal. Einen Mangel an Weitsicht warf er auch Präsident Clinton vor: Die Nato bis an Russlands Grenzen auszuweiten betrachtete er als strategischen Fehler. „Dies könnte einen negativen Effekt auf die demokratischen Entwicklungen in Russland haben“, schrieb Kennan 1997. LEON WANSLEBEN