„Wir sind alle unbezahlte Mitarbeiter“

SERVICEWÜSTE In einem radikalen Selbstversuch hat sich Sigrid Faltin in die Welt der Automaten und der Internetdienste begeben

■ Sigrid Faltin, 53, musste sich als „digital immigrant“ den Gebrauch des Internets beibringen. Aber ansonsten steht sie voll im Leben als Filmproduzentin und Autorin. Für ihre produzierten Filme, die weltweit auf Festivals und im Fernsehen gezeigt werden, erhielt sie viele Auszeichnungen. Foto: privat

INTERVIEW ELISABETH SCHMIDT

taz: Frau Faltin, viele Menschen haben ihren Sommerurlaub bereits vor Monaten im Internet gebucht, sie haben dabei Geld und Zeit gespart. Das ist doch wunderbar! Was gibt es da zu meckern, was haben Sie gegen Onlineservice?

Sigrid Faltin: Damit bloß kein falscher Verdacht aufkommt: Ich liebe das Internet, für meine Recherchen, für die Kommunikation – ich meckere überhaupt nicht. Aber ich bezweifle, dass wir da immer Zeit und Geld sparen, wie uns die Unternehmen weismachen wollen.

Wie das?

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wir helfen den Unternehmen beim Sparen. Wir sind die Telefonzentrale, wenn wir bei einer Hotline anrufen, wir sind die Schreinerei, wenn wir die Küche von Ikea aufbauen, wir sind unsere eigenes Reisebüro, wenn wir Tickets online buchen. Das ist richtig Arbeit, und wenn man den Stundenlohn zugrunde legt, darf man bezweifeln, ob wir wirklich dabei sparen.

Easyjetflüge sind in zehn Minuten gebucht, und wenn man es rechtzeitig macht, kann man Berlin–Basel für 60 Euro hin- und zurückfliegen.

Alles, was man oft macht, bringt Routine. Ich selbst fliege aber selten. Das bedeutet: Wenn ich einen Flug im Internet buche, brauche ich mindestens 45 Minuten, und kurz vor der letzten Bestätigung habe ich dann erhöhten Herzschlag: Habe ich wirklich alles richtig gemacht? Ich checke alles tausendmal, dann ist womöglich die Sitzung abgelaufen, und plötzlich hat sich der Preis auf wundersame Weise um 20 Euro erhöht … Ich habe Zeit und Nerven investiert und im Zweifelsfall kein bisschen gespart.

Sind Sie mit 53 Jahren womöglich einfach zu alt für diese ganze Technik?

Klar, dieses Gefühl hat man sofort. Aber das stimmt nicht. Ich habe in Internetforen junge Menschen gefunden, die waren genauso hilflos wie ich. Diese Altersdiskussion lenkt doch nur davon ab, worum es in Wahrheit geht: Wenn ich mein Porto online ausdrucke und dabei selbst die Hilfsmittel eines Postmitarbeiters käuflich erwerben muss, also Briefwaage und eine Schablone, werde ich zur Mitarbeiterin der Post, ohne dabei einen Cent zu sparen. Die Post baut ihr Personal ab, und ich bin unbezahlte Mitarbeiterin. Aber ich streike nicht und ich nehme keinen Urlaub.

Sie haben sich für Ihr Buch freiwillig in diese Selbstversuche gestürzt. Wir haben ja immer noch die Wahl und können an den Postschalter gehen.

Mit der freien Wahl ist das so eine Sache. Ich als Kleinunternehmerin bin vom Gesetzgeber zwangsverpflichtet worden, meine Umsatzsteuer online anzumelden. Das heißt, es wird von mir erwartet, dass ich einen Computer habe und mir ein Steuerprogramm herunterlade, um meiner Pflicht als Staatsbürgerin nachzukommen. Dieses Programm treibt regelmäßig auch Computerfreaks zum Wahnsinn.

Und – haben Sie Ihre Steuererklärung hingekriegt?

Ich durfte mir auch da Hilfe im einschlägigen Internetforum suchen, selbst Fachleute konnten mir nicht weiterhelfen. Warum? Auch dieses Programm steckt wie viele andere noch in den Kinderschuhen. Das ist doch der Punkt: Nicht wir sind zu dumm oder zu alt, die Unternehmen lassen uns auch hier für sie arbeiten. Nicht ihre Ingenieure, sondern wir helfen ihnen, ihre Produkte zur Marktreife zu bringen. Auch das gehört zu den Dingen, die jetzt die Kunden erledigen dürfen.

Sie glauben, das hat System?

Natürlich hat das System! In der einschlägigen Managementliteratur wird den Unternehmen dringend geraten, den Konsumenten als sogenannten Koproduzenten einzusetzen, auf Deutsch: Wir produzieren das Produkt zu Ende. Und zahlen drauf, mit Geld, Zeit, Nerven.

„Wir sind unsere eigene Schreinerei, wenn wir die Ikea-Küche aufbauen“

Was können wir mehr tun als klagen?

Ich kann nur jedem raten, der eine wichtige Angelegenheit per Internet zu erledigen hat: Machen Sie die Musik aus, stellen Sie das Telefon ab, denn jetzt heißt es: Es wird gearbeitet. Googeln Sie mal unter den Stichworten „Onlinebanking – Geld weg“! Da bekommen Sie eine Million Treffer, und die Leute erzählen, was ihnen passiert ist. Die meisten kriegen ihr Geld bei Buchungsirrtümern nicht mehr zurück, es war ja schließlich ihr Fehler. Das Unternehmen hat also nicht nur die Arbeit, sondern auch die Risiken auf die Kunden abgewälzt.

Das heißt übersetzt: Wir müssen uns beugen.

Nein, wir müssen uns wehren! Wir müssen die Service-Oasen, die es noch gibt, hätscheln und tätscheln, denn sonst sind sie eines Tages weg. Ich gehe grundsätzlich an keine Selbstbedienungskasse, ich meide Hotels, in denen ich nicht von einem Menschen begrüßt werde. Ich zahle im Reisebüro gerne die 23 Euro Servicegebühr und lasse Fachmann oder Fachfrau für mich arbeiten, und ich koche mir einen einfachen Mokka, anstatt mich mit einer Espressomaschine herumzuschlagen, die ich erst nach dem Besuch diverser Internetforen konfigurieren kann – wenn überhaupt.

Glauben Sie, dass das etwas nützt?

Oh ja. Zum Beispiel ist der gute alte Tankwart wieder da. Die Mineralölbranche war eine der ersten, die rigoros Personal abgebaut hat. Und siehe da, Shell hat bisher bei einem Drittel der Tankstellen wieder einen Tankwart. Weil sie festgestellt haben, dass es sich durchaus rechnet. Ich habe keine dreckigen und stinkenden Finger mehr und keine Fliegen an den Scheiben, ich kann, muss aber nicht einen Euro für den Service zahlen, dann schaut der Tankwart noch nach, ob ich genügend Öl habe. Also bitte: Es lohnt sich für mein Auto, für die Tankstelle und für mich.

■ Sigrid Faltin: „Scheiterst du schon oder schraubst du noch – Überlebensstrategien in der Servicewüste“. Herder Verlag Freiburg, 160 Seiten, 12 Euro