Hoch die Solidarität!

EU-Staaten dürfen Schulden machen, wenn dies der internationalen Solidarität dient. Was das genau heißt, weiß keiner

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Resignation scheint sich seit Wochen wie ein großes schwarzes Tuch über den Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker zu legen. In der Nacht zu gestern schimpfte er auf sein derzeitiges Dienstgebäude, den EU-Ministerrat, zu dem er den Architekten nur sehr eingeschränkt gratulieren könne. Ein Bett in Brüssel, erklärte der amtierende Ratspräsident den um Mitternacht noch ausharrenden Journalisten, sei diesem Arbeitsplatz allemal vorzuziehen. Sprach es, verschwand und überließ es Finanzkommissar Joaquin Almunia, die Vorzüge des weichgespülten Stabilitätspakts zu erläutern.

Almunia betonte, dass an den Referenzwerten – 3 Prozent Neuverschuldung und 60 Prozent Gesamtverschuldung – auch künftig nicht gerüttelt werde. Das ist keine Überraschung, da diese Zahlen in einem Vertragsprotokoll stehen und nur per Vertragsänderung aus der Welt geschafft werden könnten.

Werden diese Referenzwerte überschritten, wird die EU-Kommission auch weiterhin einen Bericht erstellen. Wie im Vertrag vorgeschrieben, wird sie dabei die Höhe der öffentlichen Investitionen und „alle sonstigen einschlägigen Faktoren, einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage des Mitgliedsstaates“ berücksichtigen. Der neue Pakt präzisiert aber, was „einschlägigen Faktoren“ sein sollen.

An dieser Frage hatten sich die Verhandlungen im Finanzministerrat monatelang festgefahren. Deutschland bestand darauf, die Kosten der deutschen Einheit und den hohen Beitrag zum EU-Budget zu berücksichtigen. Frankreich hatte die Rüstungsausgaben ins Gespräch gebracht und wollte sich außerdem Forschungsausgaben gutschreiben lassen. Das hatte den Protest der kleinen EU-Länder herausgefordert, die keine Sonderregeln für die großen Schuldenmacher akzeptieren wollten. Zeitweilig plante jedes Land, eigene „mildernde Umstände“ aufzulisten.

Die Kommission und die Luxemburger Präsidentschaft wollten sich darauf keinesfalls einlassen. In der Nacht zu gestern kam ein Kompromiss heraus, der zwar nicht auf einzelne Länder zugeschnitten, aber so allgemein formuliert ist, dass jedes Land ihn für seine Zwecke zurechtbiegen kann. „Besonders berücksichtigt werden Ausgaben im Rahmen der internationalen Solidarität und der europäischen Politikziele, vor allem die Einigung Europas“, heißt es nun.

Das ermöglicht es nicht nur Frankreich, seine Rüstungsausgaben als Beitrag zur Krisenintervention in die Waagschale zu werfen. Deutschland kann geltend machen, wie kein anderes Mitgliedsland die Einigung Europas zu finanzieren. Und die anderen acht EU-Länder, die derzeit die Maastricht-Regeln verletzen, werden ihrer Fantasie ebenfalls freien Lauf lassen. Sie können sich auch die Folgekosten der Überalterung anrechnen lassen. Die Rentenumstellung vom Generationenprinzip auf private Kapitalversicherungen wird als eigener Kostenfaktor in den neuen Pakt aufgenommen.

Almunia und Juncker können sich immerhin zugute halten, dass sie Hans Eichels ursprüngliche Idee, bestimmte Haushaltsposten aus dem Defizit herauszurechnen, durchkreuzt haben. Unzulässig ist die „Umdefinierung der Maastricht-Kriterien durch Ausschluss bestimmter Haushaltsposten“, steht im neuen Stabilitätspakt. Außerdem soll künftig der gesamte Wirtschaftszyklus von der Kommission beobachtet werden. Der Druck auf die Mitgliedsländer, in guten Zeiten keine Steuergeschenke zu verteilen, sondern für schwache Wachstumsphasen vorzusorgen, soll verstärkt werden. Sanktionsmöglichkeiten erhält die Kommission zwar nicht, doch kann sie die Wirtschaftspolitik eines Mitgliedslandes begutachten und durch den Verweis auf erfolgreichere Mitglieder Druck ausüben.

Ein Fortschritt ist schließlich auch, dass der neue Pakt der Situation in der erweiterten Union besser gerecht wird. Für die neuen EU-Staaten mit ihrem enormen Wachstumspotenzial ist der mittelfristig im Pakt angestrebte ausgeglichene Haushalt nicht sinnvoll. Deshalb soll Ländern mit geringem Schuldenstand und hohem Potenzialwachstum dauerhaft eine Neuverschuldung von 1 Prozent zugestanden werden, während die alten EU-Länder mit hohem Schuldenstand und geringem Potenzialwachstum einen ausgeglichenen Haushalt anstreben sollen.

Schade, dass Jean-Claude Juncker Spottlust und Selbstironie abhanden gekommen sind. Sonst wäre ihm zu dieser Presseerklärung bestimmt etwas eingefallen: „Am Ende der Versammlung hat der französische Finanzminister Thierry Breton dem Vorsitzenden für seine meisterliche Regie gedankt, die einen historischen Kompromiss ermöglicht hat.“ Vielleicht wird er uns in seinen Memoiren verraten, ob hier tatsächlich ein Kompromiss gefunden wurde. Oder ob sich nicht vielmehr Deutschland und Frankreich durchgesetzt haben.