Nachlese mit Klang

Wahrheit statt Weinreben: Die Literaturwerkstatt präsentierte große Literatur aus kleinen Ländern

Eine „prall gefüllte Wundertüte“ verspricht Jörg Plath dem Publikum der Literaturwerkstatt. Der Rezensent des Tagesspiegels moderiert den „bunten Nachlese-Abend“ zur Leipziger Buchmesse. „Kleine Sprachen – große Literaturen: Hier wird nicht über Europa gesprochen, hier liest Europa“, beschwört Plath seine Gäste.

Sieben AutorInnen aus Ländern wie Zypern, Kroatien und Litauen sind gekommen, um Geschichten und Gedichte vorzulesen, im Wechsel mit der deutschen Übersetzung, die verschiedene SprecherInnen vortragen.

Es beginnt mit Lyrik. Die Schwedin Eva Ström schreibt Gedichte voller Gertrude-Stein-artiger Minimalismen. Wie viel Atmosphäre ihre Verse im Deutschen verlieren, wird klar, als Ström dieselben Zeilen, deren Übersetzung man zunächst eher mit Stirnrunzeln anhört, auf Schwedisch liest. Plötzlich machen ihre Zeilen akustisch Sinn, werden zu klangvollen, insistierenden Wiederholungen.

Ähnlich verhält es sich mit den Gedichten Maria Grech Ganados aus Malta. Auf Deutsch vernimmt man neoromantische Poesie zwischen mediterranem Weinrebengeschmachte, erotischen Orangenmetaphern und gleißendem Mondenschein. Aber als die Autorin ihrem Text selbst Leben einhaucht, hat man plötzlich den Eindruck, profunden philosophischen Wahrheiten zu lauschen.

Prosa gibt es auch zu hören. Etwa von dem ungarischen Pulitzer-Preisträger Gábor Schein, der seinen frisch übersetzten Roman „Lazarus!“ mitgebracht hat. Da er die Originalversion zu Hause ließ, hat er den Beginn des Textes eigens für den Abend ins Ungarische rückübersetzt.

Scheins Romanauszug erzählt von einer Familie, die nach der deutschen NS-Besatzung Ungarns mehrere Tote zu beklagen hat, als Opfer des „Zwangsarbeitsdienstes“. Der Erzähler spricht von „Gräbern ohne Zeichen“, vom ausgemergelten Gesicht des umgekommenen Großvaters, den man nach den Strapazen der Fron kaum noch wiedererkennen konnte. Es ist ein Erzählen gegen das Vergessen.

Auch in dem Text des Tschechen Emil Hakl spielt die deutsche Besatzung Osteuropas eine Rolle, wenn auch ironisch gebrochen: Eine konsternierte Frau beklagt das Beziehungsdesaster mit einem Mann, der daheim nichts anderes macht, als Kampfszenen des Zweiten Weltkriegs nachzubasteln.

Hakls Text ist komisch, handelt aber auf seine kaputte Weise ebenfalls vom Weiterwirken der NS-Geschichte, vom ewig nachgestellten Befreiungskampf gegen die Deutschen.

JAN SÜSELBECK