In jedem Leben steckt Geräusch

taz-Serie Kriegsende (Teil 2): Gisela Jacobius war ein „U-Boot“. Versteckt überlebte die Jüdin die NS-Zeit – und fiel fast den Befreiern zum Opfer

VON PHILIPP GESSLER

Mein Gott, die Diele hat geknirscht! Hat das jemand gehört? Ist jemand aufgefallen, dass zwar die Spülung nicht ging, aber Wasser die Toilettenleitung herunterfloss, obwohl niemand in der Wohnung sein soll? Wenn jetzt wieder die Flieger ihre Bomben abwerfen – in welchen Bunker kommt man ohne Ausweis? Oder besser einfach in der Wohnung bleiben trotz aller Gefahr? Und leben die Eltern noch oder hat sie die Gestapo gefunden?

Mehr als zwei Jahre hat Gisela Jacobius während der NS-Zeit in der Illegalität gelebt, als „U-Boot“, wie versteckte Juden genannt wurden. Mehr als 700 Tage voller Angst vor der Entdeckung – bis zum Kriegsende, als sie fast noch den Befreiern zum Opfern fiel. Sie wäre dem Tod geweiht gewesen, hätten die Nazis sie erwischt. Von den etwa 160.000 Juden, die 1933 in Berlin lebten, wurden mehr als 56.000 in Konzentrationslager deportiert. Schätzungen von Historikern zufolge versuchten mehr als 5.000, versteckt ihren Nazihäschern zu entkommen. Nur ein Drittel schaffte es. Wie Gisela Jacobius.

Wer die 81-Jährige in ihrer Steglitzer Wohnung besucht, käme nie darauf, welche unglaublichen Geschichten sie erlebt hat, so unauffällig sieht es hier aus: ein Ölschinken, der Blumenmarkt von Amsterdam, über schweren Sesseln, 50er-Jahre-Stableuchten an der Wand, viele Blumen und ein paar Fotos von den Enkelkindern im Wohnzimmer. Aber da ist auch die Menora in einer Vitrine, kleine Fotos der Fenster Marc Chagalls zu den Stämmen Israels und ein Panoramabild von Jerusalem im Flur. Und wenn sie beginnt zu erzählen, mit diesem typischen Sprachwitz und der Direktheit der alten Berlinerinnen, endet jede Unauffälligkeit schnell.

Gisela Jacobius wird 1923 in der Nähe des Alexanderplatzes geboren, die Mutter ist Putz-, also Damenhutmacherin, ihr Vater Kaufmann. Die Ehe der Eltern scheitert bald, ihre Mutter heiratet erneut, dieses Mal den Besitzer eines Feinlederladens. Die Familie ist jüdisch, es ist ein liberal-reformiertes Judentum.

Nach der Machtübernahme der Nazis muss Gisela Jacobius zunächst auf eine jüdische Schule in die Große Hamburger Straße in Mitte wechseln. Das letzte Schuljahr macht sie schon nicht mehr. Es hieß bereits, dass ein Handwerk wohl doch die einzige Chance für Juden sei. Gisela Jacobius fängt an in der Jüdischen Modeschule an der Alexanderstraße, was sich später als nachteilig erweist, da dort Stella Goldschlag als Modezeichnerin arbeitet: Die blonde Schönheit mit den Korkenzieherlocken wird später die berüchtigste „Greiferin“ der Hauptstadt: Sie verpfeift, obwohl selbst Jüdin, versteckte Juden – um ihre und die Haut ihrer Familie zu retten.

Gisela Jacobius muss ab Anfang 1941 Zwangsarbeit leisten, sie in einer Einlagesohle-, ihre Eltern in einer Lampen- und Bakelit-Firma. Zwei Ausreisen der Familien scheitern knapp: die eine nach Luxemburg, weil das Land einen Tag zuvor von den Deutschen besetzt wird, die andere nach Kuba, weil ab dem 23. Oktober 1942 allen Juden jegliche Emigration verboten wird. Den umfangreichen Schriftverkehr mit den Behörden für die Kuba-Emigration hat Gisela Jacobius noch wohl geordnet zur Hand. Sie blättert ihn durch, und noch immer treibt es ihr die Zornesröte ins Gesicht, wenn aus den Akten die Willkür der Nazi-Beamten spricht: „Wir hatten schon alles eingepackt – unter der Aufsicht eines Zollbeamten!“

Schon Anfang Oktober war die Oma abgeholt worden, mit einem Tritt in den Hintern hatte man sie in ein Lastauto befördert. Kunden im Geschäft warnen die Familie immer häufiger: „Geht in den Untergrund, lasst euch nicht abschlachten!“ Kurz vor der „Fabrikaktion“, bei der die letzten zwangsarbeitenden Juden aus Berlin deportiert werden, taucht die Familie Jacobius schließlich am 9. Januar 1943 unter. Ein Martyrium beginnt.

Genau acht verschiedene Unterkünfte hat Gisela Jacobius in den folgenden zwei Jahren – und noch heute kann sie sie runterbeten: in Saarow, in Schöneiche, noch eine dort, ein Fluchtort in Möllenhorst, die Frankfurter Allee 66, ein Versteck in Lichterfelde-West, schließlich die Roonstraße 23 und die Eisenacher 20. Immer auf der Flucht vor der Gestapo, vor Blockwarten, vor allzu neugierigen Nachbarn.

„In einem Leben steckt Geräusch“, sagt Gisela Jacobius. „Man wurde weitergereicht“, erklärt sie, immer zunächst für ein paar Tage. „Das zog sich aber“, denn dieser Krieg will nicht zu Ende gehen. „U-Boote“ konnten nur überleben, wenn sie ein Netz von Helfern hatten, im Schnitt kommen auf einen Überlebenden sieben Helfer, wie Berliner Historiker ermittelt haben. Und nicht alle helfen nur aus ideellen Gründen. Ihre Mutter kann sich die meiste Zeit in einer Arztpraxis verstecken, wo sie auf einer Behandlungsliege schläft. Ihr Vater taucht unter anderem auf einem „Äppelkahn“ unter, einem Binnenschiff. Genauer kann es Gisela Jacobius nicht sagen, weil sie es nicht wissen sollte, um ihre Eltern nicht zu gefährden, sollte sie aufgegriffen werden.

Die Versteckte schläft meist auf dem nackten Boden. Um etwas zu essen zu bekommen, muss Gisela Jacobius immer wagemutiger werden. Im Januar 1945 geht sie sogar zu einem Amt, wo sie sich als Vertriebene ausgibt und Essenmarken erbittet. Auf die Frage, woher sie komme, antwortet sie nur: „Fragen Sie nicht!“ – und kommt mit dieser Masche durch. Ab dem 24. April 1945 schließlich die letzte Unterkunft: der Keller der Schwedischen Kirche in der Landhausstraße 28 in Wilmersdorf. Hier ist sie endlich wieder mit ihren Eltern zusammen, die sie zuvor nur gelegentlich treffen konnte.

Der Vater von Gisela Jacobius hat über die letzten Tage im Keller der Schwedischen Kirche in der Nachkriegszeit einen Bericht verfasst: „Unsere Nerven waren am Ende ihrer Kraft“, schreibt er. Auf dem Gelände der Kirche, als exterritoriales Gelände markiert durch schwedische Flaggen, installiert sich eine deutsche Granatwerferabteilung – weshalb die Rote Armee das Haus mit 40 bis 50 Artilleriegeschossen beschießt. Gisela Jacobius und ihre Eltern überleben das friendly fire, zwei Insassen werden tödlich getroffen.

Im Keller ist auch ein schwedischer SS-Mann mit seiner hochschwangeren deutschen Frau. Natürlich gibt sich die versteckte jüdische Familie auch ihm nicht zu erkennen. Es ist eine absurde Situation: ein SS-Mann und versteckte Juden im gleichen Keller, in Todesangst vereint wegen des Beschusses ihrer Befreier. „Am 30. April abends gegen 19 Uhr hörten wir über uns russische Stimmen. Wir verhielten uns ruhig und wurden nicht entdeckt“, notiert der Vater in seinem Bericht.

Als die Kirche durch eine Phosphorbombe völlig zerstört wird, muss die Familie auch von hier fliehen. Gisela Jacobius macht den Fehler, sich vor den sowjetischen Besatzern, die sie jetzt aufgreifen, nicht sofort als versteckte Jüdin zu erkennen zu geben. So wird sie als Kriegsgefangene in sowjetische Lager gebracht. Allen Versicherungen, sie sei doch eine Jüdin, wird nicht geglaubt. Erst im August 1946 wird sie nach einem Verhör vor einem Dutzend russischer Militärs nach Berlin entlassen.

Hat es wehgetan, ihre zerstörte Heimatstadt wieder zu sehen? „Nö“, sagt Gisela Jacobius, „das damalige deutsche Volk, das Nazideutschland hat es nicht anders verdient.“ In ihrer Zeit als „U-Boot“, erinnert sie sich, „waren wir froh um jede Bombe, die fiel“. Sie brachte die Befreiung näher. Ihre Mutter überlebt den Krieg nur kurz, 1948 stirbt sie in Berlin. Mit ihrem Stiefvater wandert sie 1949 nach Israel aus. „Wir wollten nicht im verhassten Deutschland bleiben“, sagt die Holocaust-Überlebende. Ihr Vater stirbt 1952 in Israel. Sie verträgt weder das Klima noch eine undiagnostizierte Penicillin-Allergie, die ihr das Leben dort zur Hölle macht. Deshalb kehrt sie 1953 nach Deutschland zurück. Immerhin, ihren späteren Mann hat Gisela Jacobius auf der Reise nach Israel kennen gelernt. Unglücklich wirkt sie nicht. Im einst verhassten Deutschland.