ESTLANDS REGIERUNG IST MAL WIEDER VORZEITIG AM ENDE
: Baltische Parlamente als Notbremser

Die überraschende Nachricht ist nicht, dass in Estland eine Regierung wieder einmal keine volle Legislaturperiode durchgehalten hat. Das hat in den drei baltischen Staaten, seit sie diese 1991 selbständig wurden, noch nie eine Regierung geschafft. Überraschend ist, wie lange es die Koalition von Ministerpräsident Juhan Parts schaffte – nämlich länger als jede andere bisher, was für eine gewisse Konsolidierung des politischen Systems spricht. Es ist immer noch geprägt von großer Beweglichkeit, sowohl was die Mitgliedschaft in den Parteien wie auch deren Standort im politischen Koordinatensystem und damit deren Koalitionsbereitschaft angeht. Entsprechend mobil sind auch die Wählerinnen und Wähler. Hier zeigen sich Kinderkrankheiten junger Demokratien, jedenfalls in der etwas gönnerhaften Sicht des vergleichsweise alten Europas mit seinen verkrusteten Parteiensystemen.

Im Baltikum erinnern allerdings manche Gründe für den Sturz von einzelnen Politikern oder ganzen Regierungen an Vorgänge in zentralamerikanischen Bananenrepubliken. In Estland trat jetzt die gesamte Regierung zurück. Zuvor gingen nacheinander der Verteidigungsminister wegen einiger von ihm verschlampter Geheimdokumente, dann die Außenministerin – weil sie zu einem Staatsbegräbnis nach Georgien reiste, aber noch vor dem Trauertermin wieder nach Hause eilte, um einen Fernsehauftritt bei der nationalen Ausscheidung des Eurovision Song Contest nicht zu verpassen – und ein Justizminister, weil er der Staatsanwaltschaft eine Mindestquote für jährlich wegen Korruptionsverdacht anzuklagende Beamte vorschreiben wollte.

Auch in der Bundesrepublik hat es weit mehr als ein Jahrzehnt gedauert, bis die Parteienlandschaft stabilisiert war – wobei Kabinettskrisen allerdings weitgehend ausblieben. Wenn es hingegen bei den Balten zu korrupt, dumm oder populistisch wird, verhindern immer wieder die Parlamente rechtzeitig das Schlimmste, sei es mit dem Sturz von Ministern oder ganzen Regierungen. Demokratische Funktionsfähigkeit beweist dies zur Genüge.

REINHARD WOLFF