Der Schlepper-Nepp

Die Vergabe von Reiseschutzpässen steht seit der Visa-Affäre unter Verdacht, Menschenhandel zu begünstigen. In Wirklichkeit wollen Politiker ein neues Feindbild aufbauen: die Schlepperbande

VON HELMUT HÖGE

Seit der Visa-Affäre beherrscht eine Schlussfolgerung die Öffentlichkeit: Reiseschutzpässe leisteten dem Menschenhandel Vorschub. Tatsächlich betrifft die Zahl der Opfer von Menschenhandel aus der Ukraine real etwas weniger als 1 Prozent der in Deutschland arbeitenden ausländischen Prostituierten.

Von diesen „Opfern“ war laut „BKA-Lagebild Menschenhandel“ zudem ein Drittel mit ihrer Prostitutionstätigkeit einverstanden. Die meisten dieser also so genannten Opfer kamen überdies legal nach Deutschland, sodass der Vergabe von Reiseschutzpässen, die jetzt in der Visa-Affäre eine so große Rolle spielt, im Zusammenhang mit Menschenhandel so gut wie keine Bedeutung zukommt. Die taz-Autorin Lilli Brand etwa kam zweimal mit einer ukrainischen Schlepperbande ins Land, die für „ihre Mädchen“ jedes Mal legale Visa besorgte – bei zwei korrupten deutschen Visabeamten in Kiew, die inzwischen aus dem Verkehr gezogen wurden. Auch Lilli Brand arbeitete dann einige Jahre hier als Prostituierte – ohne sich als Opfer verbrecherischer Menschenhändler zu begreifen.

Die Frankfurter Prostituiertenorganisation Dona Carmen vermutet schon lange, dass dabei von Polizei, Presse und Politik gezielt ein neuer Gegner aufgebaut wird, der ihnen den alten abhanden gekommen Zuhälter ersetzen soll. Dies wird zuletzt auch noch von feministischen Sozialwissenforscherinnen abgenickt. Auch dort habe also ein Wandel stattgefunden, ähnlich dem Paradigmenwechsel von der einst im Westen staatlich geförderten „Fluchthilfe“ zum staatlich bekämpften „Menschenhandel“, der nach dem „Fall des Eisernen Vorhangs“ 1993 in Budapest sozusagen offiziell – auf Ministerebene – verkündet wurde.

Trotz der Verwandlung der freiheitsliebenden Fluchthelfergruppen in verbrecherische Schlepperbanden hat sich jedoch dieses Gewerbe mit dem Mauerfall nicht groß geändert, außer dass die Schlepper jetzt statt staatlich geschützt und gefördert zu werden sich privatwirtschaftlich organisiert haben.

Dazu führte 1999 der Direktor der „International Organisation for Migration“ (IOM) auf einer Konferenz des Bundesnachrichtendienstes (BND) aus: „Das kommerzielle Netzwerk umfasst zentrale Strukturen einer Schattenwirtschaft, die aus relevanten Dienstleistungen besteht. Zwangsmaßnahmen gegen zahlungssäumige Kunden bewegen sich zum Großteil im Rahmen dessen, was zum Beispiel auch seriöse Kreditinstitute unternehmen, um ausstehende Gelder einzutreiben.“

Diese Experteneinschätzung hat jedoch nicht verhindert und sollte das auch nicht, dass man dabei heute von kriminellem Menschen- bzw. Frauenhandel spricht. Demgegenüber behauptet der „Bundesverband der Schlepper & Schleuser“, der mit „Dona Carmen“ zusammenarbeitet: „Von mafiaähnlichen Strukturen ist weit und breit nichts zu sehen, die einzigen Straftaten, die begangen werden, sind Dokumentenfälschungen und Beihilfe zu illegaler Einreise und Aufenthalt. So braucht es auch das Konstrukt der organisierten Kriminalität, um saftige Strafen für geringe Verbrechen zu rechtfertigen.“

Dass die Polizei mit Frauenberatungsstellen zusammenarbeitet, um die festgenommenen Frauen zu gerichtlich verwertbaren Aussagen zu bewegen, darauf ist zum Beispiel Gerline Iking von der „Dortmunder Mitternachtsmission“ sogar stolz: „Wenn Razzien anstehen, müssen wir parat stehen!“ Früher weigerten sich die Sozialarbeiterinnen und Ärzte in den inzwischen aufgelösten „Geschlechtsberatungsstellen“, an Razzien teilzunehmen und selbst bei ihren regelmäßigen „Bordellbegehungen“ von der Polizei auch nur begleitet zu werden. Heute fordert eine Frauenbetreuungs-Organisation wie „Solwodi“ sogar die Teilnahme von NGOs an Razzien: „Die Aufgaben der Fachberatungsstelle und das Zusammenwirken von Polizeibeamten und Beraterinnen kann im Einsatzbefehl festgeschrieben werden.“

Die in Frankfurt/Main ansässige Organisation „Agisra“ hat dabei eine ganz neue Aufgabe gefunden: „Wir leiten bewusstseinsbildende Prozesse zur Annahme der Rolle bzw. Identität als potenzielle Opferzeugin ein.“ Dabei treten jedoch unverhofft Widerstände auf, wie zum Beispiel die Prager Organisation „La Strada“ klagt: Bei den meisten Frauen ist „die Bereitschaft zur therapeutisch begleitenden Be- und Verarbeitung des Erlebten gering“. Solch gewissenlosen Prostituierten warf die rot-grüne „Landesregierung Nordrhein-Westfalens“ zuletzt in einer offiziellen „Antwort“ eine nicht mehr hinzunehmende „Verdrängungs- und Verharmlosungshaltung … gegenüber der eigenen Unterdrückung“ vor.

In Summa: „Die Grenzen der Arbeitsaufgaben zwischen Polizei und Opferschutzstelle scheinen sich zu verwischen“, wie es bereits 2001 die Bielefelder Autoren einer Studie über den europäischen Frauenhandel und -beratungswandel befürchteten.