Die Ehre der Blaufußtölpel

Die Obsessionen der deutschen Alternativen und andere Teufeleien: Gabriele Riedle macht einen „Versuch über das wüste Leben“

VON BARBARA KERNECK

Der Einband in chinesisch changierendem Rot, gestochener Satz in Stiefmütterchenblau, holzfreies Papier in Stiefmütterchengelblichweiß. Der hohe Ton der Faust zitierenden Anfangssätze: „Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?“ Dann von der ersten bis zur letzten Seite ein einziger, melodischer innerer Monolog. Kleine Brötchen backen wollten weder Herausgeber Hans Magnus Enzensberger noch die Autorin Gabriele Riedle mit ihrem Roman: „Versuch über das wüste Leben“.

Jener „Wahn“ ist die Faszination, welche die Heldin des Romans angesichts eines geheimnisvollen Herrn Er verspürt. Ihn zu treffen, eilt sie gleich zu Beginn zum Meeting-Point eines Flughafens. Wir müssen sie uns als eine Mittdreißigerin vorstellen, die auf Flughäfen zu Hause ist. Im Auftrag einer Großbank war sie schon in allen globalen Provinzen der Welt, „von wo uns das Fernsehen Katastrophen überträgt“. Darin gleicht sie übrigens der Autorin des Buches, nur dass diese als GEO-Reporterin bekannt ist. Auch den Familiennamen teilen sie, Riedle. Dazu den Drang, zu erkunden, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Die faustische Suche passt schlecht zu dem gretchenhaften Gebaren gegenüber dem Herrn Er. Können in der Brust einer Person Faust und Gretchen gleichzeitig wohnen? Gabriele & Riedle beweisen: Die moderne Frau bringt alles unter einen Hut. Da aber der Herr Er und Riedle sich verfehlen, verbringt die Heldin den Rest des Romansommers ihre Wochenenden auf einer idyllischen Waldlichtung bei Hamburg, im Blockhaus dreier Freunde. Dort findet sich Hilde ein, von Beruf Ärztin und bei der Organisation Ärzte ohne Grenzen in Lohn und Brot. Dann Carola, Psychotherapeutin und Exhure, nebst ihrem jungen Freund, dem schönschultrigen Freddy mit der Kettensäge als Lieblingsrequisit. Die drei sind nämlich „die Speerspitze der norddeutschen Zivilisation“, und der Biologe Freddy hat den Frauen versprochen, den ohnehin „ökologisch wertlosen Industriewald“ um die Lichtung von einem riesigen, dort überhaupt nicht artgerecht blühenden Rhododendronbusch zu säubern.

Mit viel Witz schildert Riedle die Geplänkel innerhalb der Lichtungsgemeinschaft um Abwasch und Weltsicht. Hilde und Carola haben die Heldin mütterlich aufgenommen, teilen deren Vegetarierinnenvorliebe für antifaschistisches Gemüsecurry und könnten als deren Alter Egos durchgehen. Doch unverständlich bleibt ihnen die Rolle des Herrn Er in Riedles Träumen und Erinnerungen, mal als dicker Löwenbändiger im weißen Seidenanzug, mal als Salvatore Adamo. Dass er ihnen beibringen könnte, wie viel ein Mensch auszuhalten vermag, lockt sie nicht. Weil die Mitbewohnerin ewig kritzelt, ahnen sie sich als Objekte ihrer schriftstellerischen Arbeit missbraucht. Wir haben hier nicht nur das klassische Thema der Künstlerin als Außenseiterin in der Welt der Blauäugigen, Riedle unterscheidet sich von den Freundinnen durch ihre andere Lebenserfahrung.

Zwar hat sie in den Regenwäldern etwa das Gleiche gesehen wie die Ärztin ohne Grenzen, es aber anders erlebt. Sie kann deren Einteilung der Menschen in korrekte und unkorrekte nicht nachvollziehen. Für sie passt der größte Teil der Weltbevölkerung in keine abendländisch-aufgeklärte Terminologie. Da herrschen neben den Kettensägen noch Geister, tragen Medizinmänner verspiegelte Sonnenbrillen, Indiofrauen schwärmen für pastellfarbene Büstenhalter, und Damen bemessen die Männlichkeit ihres Partners nach der Dicke seiner Geldbörse. Riedle hat sich auf den Dialog mit dieser Welt in Gestalt des Herrn Er eingelassen. Und der ist überhaupt der Teufel höchstselbst, er stammt aus dem „Trinkerterritorium jenseits der Elbe“ und treibt es gern mit „Schlampen mit Mutterboden in der Möse“.

Da der Roman 1999 spielt, bricht die kleine Crew schließlich auf die Galapagosinseln auf, um dort zur Jahrtausendwende die Apokalypse zu erleben. In dem fremden Klima zersetzen sich allerdings nur die Deutschen. Sie alle erkranken auf die eine oder andere Weise, Carola und Freddy entfremden sich zusehends, Riedle „erkennt“ Freddy im biblischen Sinne unter unbequemen Umständen, und der entmaterialisiert sich kurz darauf. Er war, wen wundert’s, nur eine Variante des metaphysischen Herrn Er. An einer Uferstraße steht dort das Monument für den Blaufußtölpel. Dieser sonst lebenstüchtige Vogel tritt bei der Balz stundenlang vom einen seiner blauen Füße auf den anderen und starrt seine Angebetete fassungslos an. Neben diesem Denkmal kommt es zum Showdown zwischen der nun ganz stiefmütterlichen Hilde und Riedle.

Zum Schluss bleibt der Rhododendron auf der Lichtung, der Blaufußtölpel auf dem Sockel und der Teufel wird eingebuchtet, in Riedles schwäbischem Plattenbau-Kinderzimmer, wo er sich einst in ihre Seele schlich. Statt der vielen „Faust“-Zitate hätte man sich manchmal mehr von den grotesken Bildern aus dem „Trinkerterritorium jenseits der Elbe“ und dem Rest der Welt gewünscht, die Riedle so leicht niemand nachmacht. In all diesem vergnüglich verschnörkelten Einfallsreichtum hätte dem Roman etwas mehr aggressiver Elan gegenüber seinen Hauptfiguren nicht geschadet. Aber mit für die Welt so nützlichen Frauen wie Carola und Hilde wirklich böse Schlitten fahren? Wie es in diesem Buch in anderem Zusammenhang heißt: „Darauf wartet das Patriarchat ja nur in seinem Gebüsch.“

Gabriele Riedle: „Versuch über das wüste Leben“. Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek, Frankfurt 2004, 299 Seiten, 24,50 Euro