Ich muss noch nach Duisburg

Die Ratten 07 spielen in der eher mäßigen Inszenierung einer Jobcasting-Show. Dafür überrascht Solvejg Frankes Inszenierung von Puccinis „Bohème“ aufs Angenehmste. Entsprechend muss hier auch niemand nach Duisburg

Das alternative RAW-Gelände ist groß und reicht von der Warschauer Brücke bis zum Ostkreuz. Der RAW-Tempel, die ehemalige Multifunktionshalle des Reichsbahnausbesserungswerks Franz Stenzer in der Revaler Straße, ist Klasse. Ein großer hoher Veranstaltungsraum mit allem, was dazugehört. Die Leute hier sind prima. Von irgendwoher weht für ein paar Augenblicke sogar ein wenig Haschrauch vorbei. Vorne auf der Bühne spielt ein Authentischer Mundharmonika und Gitarre dazu. Unter anderem „Blowing in the wind“ von Bob Dylan und „Mendocino“ von Michael Holm.

Im Publikum warten die Ratten 07. Die Theatergruppe der Obdachlosen gibt’s ja nun auch schon zwölf Jahre als eingetragenen Verein. Den einen mit den weißen Haaren kenn’ ich auch schon hundert Jahre vom Sehen. Vergesse aber immer wieder seinen Namen. Früher hatte er immer eine Mao-Bibel dabei. Heute ruft er in der neuen Produktion der Ratten 07 ab und an durchgehend unmotiviert: „Ich muss noch nach Duisburg.“

Der Conférencier und Moderator ist ein netter Freak mit Fransenkleidung und einem T-Shirt, auf dem steht: „Dumm und glücklich“. Irgendwie handelt „Weltall Erde Mensch“ in der Regie von Gunter Seidler von einer Jobcasting-Show. So was gab’s tatsächlich mal in Argentinien. Anfangs müssen ausgeloste Zuschauer auf die Bühne. Texte sprechen. Wer besser spricht, darf im Stück mitspielen. Das sind dann aber doch – ganz ernsthaft: leider – nur die Ratten. Das Stück spielt in einem kleinen ostdeutschen Kaff. Alle trinken. Mord, Totschlag, Rassismus und Heiratenwollen spielen auch eine Rolle. Irgendwann sagt jemand: „Wir müssen alle als Opfer kenntlich sein. Wir müssen zu bedauern sein. Wir sind die Guten.“ Der Abend ist super. Was das Stück angeht, hofft man, dass es endlich zu Ende sein soll.

Und anderntags schaut man mal, wie Puccinis „Bohème“ in dem hübsch retro gelassenen „Klub der Republik“ rüberkommt. Das 1846 erschienene Buch von Henri Murger, dass der Oper zugrunde liegt, ist ja schon mal Superklasse. Solvejg Franke hat ihre Diplominszenierung für die Hanns-Eisler-Hochschule „Bohème der Republik“ genannt und die Musik auf Klavier, Cello, Flöte reduziert. Die durchweg großartigen Schauspieler agieren zwischen den Zuschauern. Schon seltsam, wenn einen halben Meter von einem entfernt geopert wird, man selbst die Augenfarben der Darsteller sehen kann. Bekanntlich geht es ja um arme Künstler, wie die halt zusammen herumhängen, schwadronieren und sich verlieben natürlich und in fünf Minuten nochmal schnell den Leitartikel für eine Frauenzeitschrift schreiben. Zack. Dramen entstehen. Mimi (Andrea Chudak) leidet aber nicht mehr an Tuberkulose, sondern ist seelisch krank. In der Pause unterhalten sich junge Leute in Fünfergruppen in Halbsätzen singend. So was ist ja immer der normale Effekt. Tatsächlich hat man keine große Ahnung von Oper, aber das war begeisternd. DETLEF KUHLBRODT

Ratten 07, im RAW-Tempel, Revaler Str. 99, 26. 3., 1./2. u. 8./9. 4., 21 Uhr.Bohème der Republik, Pappelallee 81, 26./29./31. 3. u. 7./13./14./15. 4., 19 Uhr