Der Hüter der Schorfheide

Während sie in Kiel den „Heide-Mörder“ suchen, hat der Heidehüter in der Schorfheide andere Sorgen. Uwe Schneider muss darauf achten, dass in Brandenburgs größtem Biosphärenreservat keiner vom Weg abweicht. Das gilt sogar für Liebespaare

Das Haus der Naturwacht gehörte zum Jagdrevier von Erich Honecker

von Simone Schmollack

Uwe Schneider zieht den Reißverschluss seiner Jacke bis hoch unters Kinn, dreht seine Schultergelenke einmal nach vorn und einmal nach hinten und murmelt: „Na, dann wollen wir mal.“ Er macht sich fertig für seine Route. Dazu braucht er nicht viel: sein Fernglas, sein Auto, seine Beobachtungsgabe. Draußen ist es windig und kalt, aber auf eine Mütze verzichtet Uwe Schneider. Die würde nur sein Gehör einschränken. Wenn er draußen unterwegs ist, will er alles sehen, hören, riechen.

Der 47-Jährige steigt die Treppen aus seinem Kellerbüro hinauf ins Tageslicht und geht schnurstracks zu seinem Wagen. Gleich wird er seine übliche Runde durch den Forst drehen. Er geht, ohne nach links oder rechts zu schauen. Es scheint, als bemerke er nicht, in welch einer Idylle er sich befindet. Um ihn herum sind nur Bäume, Sträucher, eine gepflegte Wiese. Ein Specht klopft rhythmisch in die Rinde eines Baumes, im Unterholz raschelt es. Vor dem Bürogebäude steht eine Bank: Man kann sich vorstellen, wie die Frauen und Männer, die in dem Haus arbeiten, im Sommer hier genussvoll ihren Nachmittagskaffee zu sich nehmen.

Das Haus findet nur, wer es kennt. Es ist das Büro der Naturwacht des Biosphärenreservats Schorfheide, Stützpunkt Groß Schönebeck. Früher gehörte das Anwesen Erich Honecker und war Verwaltungs- und Sicherungstrakt im Jagdrevier des einstigen DDR-Staatschefs. Mit knapp 130.000 Hektar ist das Gebiet heute eines der größten Großschutzgebiete Deutschlands.

Uwe Schneider ist hier Naturwächter. Weil diese Berufsbezeichnung nicht sonderlich sexy klingt, werden die 20 Mitarbeiter der Naturwacht von den Anwohnern gern Ranger genannt. Wie in Amerika. Das soll den Brandenburger Umweltschützern wohl einen Hauch von Exotik verleihen. In „den Staaten“ hüten Ranger in bestimmten Gebieten seit Jahrzehnten die Ursprünglichkeit der Natur. Die Vorstellung, dass harte Männer mit einem weichen Lächeln auf rassigen Pferden tagelang durch die Prärie reiten und bei Sonnenuntergang an einem Lagerfeuer aus einem Emailletöpfchen Kaffee schlürfen, wurde vor allem von der Zigarettenwerbung geprägt. „Alles Quatsch“, sagt Uwe Schneider.

Er ist alles andere als exotisch und wild, auch mag er die amerikanische Bezeichnung nicht. Er trägt eine Regenjacke, an deren linken Ärmel das kreisförmige Logo der Naturwacht aufgenäht ist, seine Brille verdunkelt sich, wenn die Sonne scheint, sein Haar ist streng gescheitelt. Er redet wenig, und wenn er etwas sagt, klingt es wohlüberlegt. Den größten Teil seiner Kommunikation führt er mit sich selbst. Sein Arbeitstag dauert acht Stunden, abends fährt er zurück nach Kladendorf zu seiner Frau und den beiden erwachsenen Töchtern. Er stammt aus der Gegend und ist so bodenständig wie der Job, den er macht.

Für kürzere Wege steigt Uwe Schneider im Sommer aufs Rad, im Winter fährt er mit dem Auto durch den Wald. Bis zu 2.000 Kilometer im Monat. Ihm ist erlaubt, was normalen Bürgern verboten ist. Er und die anderen Naturwächter sind die Einzigen, die im Waldgebiet Groß Schönebeck motorisiert sein dürfen. Er weiß, dass Abgase dem Wald nicht gut tun. Aber er weiß auch, dass er sonst nicht „hinterherkommt“ und der Wald dann noch stärker in Mitleidenschaft gezogen würde. Er kennt die Stellen und Winkel genau, an denen sich Spaziergänger gern verkriechen. Weil sie es romantisch finden und auch mal allein sein wollen.

Drei Prozent der Gesamtfläche des Biosphärenreservats sind für Menschen tabu, dazu gehören auch Schilfzonen. Unübersehbare Verbotsschilder weisen darauf hin, aber es gibt immer wieder Leute, sagt Uwe Schneider, die sich darum nicht kümmern. Im Sommer scheucht der kleine, unscheinbare Mann hin und wieder Liebespaare im Schilf auf. Kinder holt er aus dem Wasser der Seen, in denen Baden strikt verboten ist, und Fußgänger aus dem Unterholz zurück. Uwe Schneider nimmt Schleichwege und ist den Störenfrieden immer einen Schritt voraus.„Die Ruhezonen für Tiere dürfen nicht gestört werden“, sagt er. Beim Reden schaut er sein Gegenüber selten an, sein Blick schweift stets über die Landschaft. Manchmal bricht er seine Rede über die Probleme des Naturschutzes abrupt ab und staunt: „Da, ein Kormoran!“ Als hätte er schon lange keinen mehr hier gesehen. Im Biosphärenreservat brüten Graureiher, See- und Fischadler. „Wenn wir nicht aufpassen, ziehen sie weg und die Populationen werden immer kleiner.“ All das erzählt er auch in Führungen. „Man muss den Leuten erklären, was erlaubt ist und was nicht.“

Uwe Schneider wacht, beobachtet, kontrolliert, bessert aus. Krötenzäune, Storchennistplätze, Biberburgen. „Wir haben ein Storchenpaar, das kommt jedes Jahr wieder.“ Ein „stabiles Paar“, wie es in der Fachsprache heißt. Der Horst der beiden muss in Ordnung sein, damit sie hier alljährlich brüten und ihre Jungen aufziehen. Wenn es sein müsste, würde Uwe Schneider sogar auf den Mast kraxeln, um die Brutstätte auszubessern. Würde er aber einen Spaziergänger dabei erwischen, wie er sich an der Niststätte zu schaffen macht, könnte er ihm ein Bußgeld verpassen. „Ich bin ein Dienstleister für den Naturpark“, sagt Uwe Schneider.

Sein Blick gleitet auf den Boden und prüft das tote Unterholz. Es bietet Lebensraum für unzählige kleine Tiere, die Menschen kaum wahrnehmen, die aber unabdingbar sind für den Kreislauf der Natur. Würde eine Insektenart aussterben, hätten bestimmte Vögel nichts mehr zu fressen. Dies hätte Auswirkungen auf die gesamte Vogelwelt Europas. Es ist ein immerwährender Kreislauf. Die Natur ist aus den Fugen. Uwe Schneider will, dass sie zumindest im Biosphärenreservat einigermaßen im Gleichgewicht bleibt.

Immer wieder wollen Schulklassen wissen, was Naturschutz konkret bedeutet. Dann ist Uwe Schneider Lehrer. Er führt die Jungen und Mädchen in den Wald, erklärt ihnen Pflanzen und Tiere und mahnt immer wieder zur Ruhe. Manchmal zeigt er ihnen das Fledermausquartier. In einem ehemaligen Stasi-Bunker, versteckt hinter einem Hügel und völlig mit Moos bewachsen, haben die Naturwächter ein Winterquartier für die Nachtschwärmer eingerichtet. Ohne den Bunker wären die Tiere verloren.

Uwe Schneider schaut auf seine Armbanduhr, stapft zum Auto und kramt aus seiner Tasche ein Stullenpaket und einen Apfel hervor. „Mittag aus dem Rucksack“, sagt er. Mehr brauche er nicht, er sei glücklich, wenn er hier draußen sein könne. „Es ist mein Traumjob.“ 1990 – da hatte die DDR-Volkskammer in ihrem letzten Beschluss fünf Nationalparks und sechs Biosphärenreservate ausgewiesen – bekam Uwe Schneider zunächst eine ABM-Stelle. Heute ist er der Büroleiter in Groß Schönebeck.

In den vergangenen Jahren ist der Tourismus in Brandenburg rasant gewachsen. Wirtschaftlich für die Region notwendig, ist er für die Natur eher von Nachteil. Seit kurzem führt ein Radwanderweg von Berlin bis nach Kopenhagen. Radtouristen wissen das durchaus zu schätzen, Uwe Schneider auch. „Dann fahren sie nicht mit dem Auto.“ Aber es macht ihn wütend, wenn sich wieder jemand bis ins Torfmoor vorgewagt hat. Dann schiebt er eine unvorhergesehene Wochenendschicht ein und schichtet das Unterholz für die Käfer.