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: Die Zeugen Jehovas – Staatsverweigerer mit Steuerprivilegien

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin, das den Zeugen Jehovas die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts zuspricht, löst Unbehagen aus. Ausgerechnet Leute, die den Staat für Teufelswerk halten und aus religiösen Gründen die Teilnahme an Wahlen ablehnen, sollen Steuerprivilegien und andere Vergünstigungen erhalten? Das scheint absurd.

Aber Gefühle und der angeblich gesunde Menschenverstand dürfen in einem Rechtsstaat nicht das Kriterium für richterliche Entscheidungen sein. Es sieht so aus, als ob das Urteil angesichts des demokratischen Prinzips der Gleichheit aller vor dem Gesetz zwingend gewesen sei. Dieses Prinzip gilt nicht nur für Gruppen, deren Überzeugungen einem sympathisch sind.

Das Land Berlin hatte den Zeugen Jehovas unter anderem vorgeworfen, psychischen Druck auf Aussteiger auszuüben und durch rigide Erziehungspraktiken das Kindeswohl zu gefährden. Aber aus Sicht des Gerichts wurden diese Anschuldigungen nicht hinreichend gut belegt. Will man nicht alle Richter für leichtfertig und verantwortungslos halten, dann muss man davon ausgehen, dass in einem mehr als zehnjährigen Rechtsstreit die Vorwürfe sorgfältig geprüft worden sind. Was man selbst über die Zeugen Jehovas gehört hat oder zu wissen glaubt, kann nicht denselben Anspruch auf umfassende Kenntnis der Organisation erheben. Sonst hätte man sich dem Land Berlin als Zeuge zur Verfügung stellen müssen.

Es genügt, wenn eine Religionsgemeinschaft rechtstreu ist – sie ist nicht zur besonderen Kooperation mit dem Staat verpflichtet. Das ist die vielleicht wichtigste Konsequenz des Urteils und zugleich die problematischste. Denn was einerseits erfreulich liberal und tolerant wirkt, zieht andererseits die Frage nach sich, weshalb Kirchen in einem säkularen Staat überhaupt privilegiert werden sollen.

Das ursprüngliche Argument dafür – nämlich die Kirchen nach dem Ende des Nationalsozialismus in den Aufbau des demokratischen Staates einbinden zu wollen – ist durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte obsolet geworden. Auch in anderen Ländern gibt es ein lebendiges Gemeindeleben, ohne dass die Kirchensteuer vom Finanzamt eingezogen wird. Das Urteil von Berlin könnte Anlass für den Gesetzgeber sein, das Verhältnis von Staat und Kirche neu zu regeln. Der Entzug steuerlicher Vergünstigungen wäre schließlich nicht gleichbedeutend mit Christenverfolgung. BETTINA GAUS

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