Irrtümlich in todsicheren Händen

Heute Sonderausschuss zum Tod von Jessica. Zwei kleine Anfragen enthüllen neue Details: Familiengericht hatte die Mutter doch im Blick, Soziale Dienste in Wandsbek sind unterbesetzt. Unbekannte zünden Kränze am Grab der Siebenjährigen an

von Kaija Kutter

Die Blumen neben den Stofftieren auf dem Grab von Jessica sind verwelkt, die Kränze aber sind verbrannt. Unbekannte haben am Karfreitag das Grab der siebenjährigen Jessica geschändet, die am 1. März in der elterlichen Wohnung verhungert ist. Offenbar gezielt wurde „Grabschmuck vom Senat, der Bürgerschaft und dem Bezirksamt Wandsbek“ angezündet, wie ein Sprecher der Hamburger Polizei mitteilte. Von den Tätern fehlt jede Spur.

Zwei Wochen nach Jessicas Beisetzung beschäftigt ihr Tod heute Nachmittag die Politik in Hamburg. Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) und Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig (parteilos) sollen auf einer Sondersitzung von Schul- und Jugendausschuss der Bürgerschaft Rede und Antwort stehen. „Ich hoffe auf eine konstruktive Fehleranalyse“, erklärt der CDU-Abgeordnete Marcus Weinberg, der die Sondersitzung gemeinsam mit der Opposition gefordert hatte.

Die CDU sei ebenso wie GAL und SPD inzwischen sogar dafür, einen längerfristigen Sonderausschuss zum Thema „Vernachlässigte Kinder“ einzuberufen, für den der Fall des verhungerten Mädchens als „Folie“ diene. Das Problem sei, so Weinberg, dass inzwischen eine Generation Kinder bekomme, die in ihrer Jugend selbst vernachlässigt wurde und unter einer „Kultur- und Bildungsarmut“ leide.

Vorsichtshalber warnt Weinberg jedoch davor, „ins Politische abzudriften“ und über die Schuldfrage zu streiten: „Meines Erachtens hat die Bildungsbehörde gut aufgeklärt.“ Dem widerspricht SPD-Fraktionsvize Britta Ernst: „Die Fakten müssen endlich auf den Tisch“, erklärt sie: „Ich habe den Eindruck, wir müssen dem Senat alles aus der Nase ziehen.“

Die Federführung bei der Aufklärung hat Dinges-Dierig, die am 8. März auf der Landespressekonferenz eine Stunde lang ihre Sicht des Falles darlegte. Demnach hatte Jessicas Mutter bereits ihr erstes Kind in Dunkelhaft gehalten, bevor es mit acht Monaten zur Adoption freigegeben wurde. Auch für das zweite und dritte Kind erhielt sie nicht das Sorgerecht, weil sie diese nach Auskunft des Ex-Ehemannes nicht richtig versorgte. Laut Dinges-Dierig konnte aber das Jugendamt Mitte bei der Geburt des vierten Kindes (Jessica) im Oktober 1997 nicht zwangsläufig davon wissen. „Wenn ein Kind in sicheren Händen ist, wird die Akte geschlossen. Es gibt nicht eine Akte über die Mutter“, erklärte die Senatorin, die nur von dem Besuch einer Sozialarbeiterin im Jahre 1999 in der Wohnung zu berichten wusste. Diese bekamen das Kind nicht zu sehen, weil es angeblich schlief.

Auch das Familiengericht war über die potenzielle Gefährdung des Kindes informiert. Diese Tatsache hat der Senat erst jetzt in der Antwort auf eine kleine Anfrage von Ernst eingeräumt. Demnach hatte das Familiengericht im Oktober 1997 das Bezirksamt um eine „Stellungnahme zur elterlichen Sorge“ gebeten, um entscheiden zu können, ob das Kind dort bleiben kann. Daraufhin habe es bis Dezember 1997 drei Hausbesuche gegeben. Wie aus der Akte hervorgehe, war Jessica als Säugling „altersgemäß entwickelt“.

„Es waren also noch mehr staatliche Stellen tätig, Dinges-Dierig hat nicht lückenlos aufgeklärt“, schlussfolgert Ernst. „Da fragen wir uns: Gibt es weitere Dinge?“ Ohnehin wundere sie sich, dass die Schulsenatorin die Federführung übernommen habe – handele es sich hier doch in erster Linie um „Fragen der Sozialpolitik“.

„Der Senat muss seine Darstellung und Schwachstellenanalyse noch mal vorbringen“, fordert GAL-Fraktionschefin Christa Goetsch. Sie erwartet, dass sich der Sonderausschuss „erstmals auf fachlicher Seite“ mit dem Fall beschäftigen werde, wobei dringend auch die Bezirke mit einbezogen werden müssten.

Die dort angesiedelten Ämter für Soziale Dienste (ASD) spielen neben den Familiengerichten eine zentrale Rolle beim Schutz des Kindeswohls. Wie eine kleine Anfrage der SPD-Jugendpolitikerin Andrea Hilgers ergab, ist ausgerechnet im Bezirk Wandsbek, wo Jessica von 1999 bis zu ihrem Tod lebte, der ASD seit Jahren schlecht besetzt (siehe Kasten). Hilgers möchte keinen direkten Zusammenhang zum Fall Jessica sehen. „Aber“, so sagt sie, „je höher die Arbeitsbelastung ist, desto größer ist das Risiko, dass was durchrutscht.“