BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER
Auch für No-Name-Berliner

Jan Feddersens Gastrokritik: Wie fühlt sich das „Borchardt“ in Mitte an, wenn der Gast Unterschichtenappeal zur Schau trägt? Gut fühlt es sich an

Vor sieben Jahren kam mal einer neu aus Bonn. Wie neu er war, lernte er im Borchardt. Er, der gewiefte mediale Strippenzieher, kam in dieses Haus zwischen Gendarmenmarkt und Friedrichstraße – und bekam einen Katzentisch zugewiesen. Nein, der Kellner war nicht unfreundlich, aber es gab kein Vertun: Er war in die persönliche Bezirksliga abgestiegen. Bis ein Mann hereinkam, der im neohauptstädtischen Berlin schon wohl gelitten war. Noch besser: Fehlte er, war die Party keine. Da rief der Altbonner in seiner Verzweiflung: „Hallo, Dschordschie …“

Na, da lernte das Personal aber rasch, dass der Randtisch ein Missverständnis war.

Kurzum: Die Christiansens und Hardenbergs dieser Stadt müssen dort nicht beweisen, wer sie sind. Das ist schön für sie und ihren Erfolg. Heute ist dieses Restaurant auch unter Touristen und No-Name-Berlinern beliebt.

Aber kann man dort hineingehen – mit Unterschichtappeal? Etwa, wenn man einen Anorak trägt, etwas abgeschabte Jeans, ein T-Shirt, ungebügelt, die Haare raspelkurz, skinnig, die Manieren – ausladend-proll? Der Test ergab: Man kann. Würdig der Platz am Fenster. Wobei auffällt: Das Borchardt ist ein Haus, das vom Blick nach innen lebt. Die Glasscheiben zur Straße sind mit mäßig feinen Gardinen verhangen – die Speisekarten am vierstühligen Tisch auf jene Areale des Tableaus gelegt, auf denen zu sitzen von der Straße abwendet: Der Spot möge in die Mitte des – durch sehr hohe Gründerzeitsäulen fast eine Spur mussolinoid wirkenden – Raumes. Das ist raffiniert: Ein Restaurant als Forum der Relevanz mit der Mitte als Glanzpunkt.

Wird man gut bedient? Ja. Der Kellner, ein übrigens äußerst attraktiv rötlich-haariger Mensch mit irritierend verhangenem Blick, blaue Augen obendrein, welche etwas barbrastreisandhaft silbrig scheinen? Ein Gang von mächtiger Entschlossenheit – so bringt er uns die Tarte, eine Komposition auf festem Mürbeteig, darauf ein Vanillecremebett, gekrönt von Früchten, auch mit Erdbeeren, die bereits schmecken.

Er hat zwei verschiedene Formate der Tartes in der Hand – das größere bekommt ausgerechnet der Gast, der nun wirklich nichts mehr braucht, das kleinere bekommt das Prollkind, aufgewachsen unter vielen Kindern, hungrig, gierig, die Geste des Kellners als Abfuhr deutend … Der Kellner, vielleicht Herr Müller, sagt gelassen: „Oh, pardon, ich habe mich verschnitten. Aber sie können es ja anders teilen.“

Ein Diplomat, der Herr Müller, einer mit festen Händen, nicht pianospieler-angeberhaft zartgliedrig. Er wechselt, immer lächelnd, die Aschenbecher, nach nur einer einzigen ausgedrückten Zigarette – das gilt als angemessen. Der Kaffee ist übrigens von außerordentlicher Qualität: heiß sowieso, der Schaum auf dem Cappuccino fest, aber nicht zu sehr, die Crema auf dem einfachen Kaffee schillernd: So muss es sein.

Schließlich kommt Herr Müller, nein, leider, er erscheint und sagt: „Ich habe für heute Feierabend. Mein Kollege ist weiter für Sie da. Ich wünsche Ihnen alles Gute für heute.“ Herr Müller will nicht mal abkassieren: eine schöne Geste der Zugewandtheit, mag man phantasieren.

Was man im Borchardt auch lernen kann: Sitzen langkörprige Menschen an einem winzigen Tisch, neigen diese dazu, die Beine nicht unter dem Tisch zu lassen, sondern eher leger übereinander zu schlagen – sodass sie außerhalb des Tisches zur Ruhe kommen. Das ist, offen gestanden, absolut unmöglich, kneipenähnlich und roh. Im Borchardt, wenn man dies wagt, schaut niemand. Die Kellner müssen mörderisch viel Trinkgeld verdienen: Sie geben selbst Signalen der Unterschicht ihren Segen. Hingehen: Da sein, essen, trinken, authentisch bleiben.

BORCHARDT, Französische Str. 47, 10117 Berlin, Fon 81 88 62 62, U-Bahn Französische Straße, Bus N6, Geöffnet täglich 11:30 bis 2 Uhr, Küche von 12 bis 24 Uhr, Lunch 12 bis 15 Uhr. Speisen von 5,50 bis 25 Euro, Plat du Jour 9 Euro, Vegetarisch 8 bis 9 Euro; Leitungswasser wird gereicht