Bahn schafft sich freie Bahn

Die Deutsche Bahn klagt einen Radverleih aus dem Bahnhof Friedrichstraße. Eine Geschichte über profane Mietschulden, eine gescheiterte verkehrspolitische Idee und die Grausamkeit des Marktes

VON ULRICH SCHULTE

Es geht um 35 Quadratmeter, voll gestopft mit Fahrrädern und Schrauben, ganz hinten links im Bahnhof Friedrichstraße. Wenn oben ein Regionalexpress einfährt, zittert unten die Neonleuchte. Hier, zwischen Rossmann und einem Thai-Imbiss, betreibt Stefan Neitzel zusammen mit seinem Partner Wolfgang Hoelzner eine seiner sechs „Fahrradstationen“ – er vermietet, repariert und verkauft berlinweit Räder.

Um die 35 Quadratmeter und einen kleineren Nebenraum tobt ein Streit, der heute mit einem Räumungstermin wahrscheinlich sein Ende findet. Die Vermieterin, die Deutsche Bahn, hat den Termin vor Gericht durchgesetzt. Jede Menge Nickeligkeiten, aufgelaufene Mietschulden, Kündigung, Räumung, fertig, so kann man die Geschichte kurz umreißen, die Neitzel beredt erzählt, die Bahn aber nur wortkarg kommentiert. Doch es geht auch um das Scheitern einer verkehrspolitischen Idee und die Grausamkeit des Marktes.

Neitzels Beziehung zur Bahn ist eine langjährige Hassliebe. Bereits 1993 verhandelte er mit dem Unternehmen über eine Zusammenarbeit. Eisenbahn und Fahrrad gehören als umweltschonende Verkehrsmittel zusammen, sind „ein Tandem“, wie er bei Bahnoberen warb. Es ließ sich gut an: Neitzel betreute als „Fahrradgesteller“ 13 Bahnhöfe in Berlin und Brandenburg. Er lieferte Räder und wartete sie, Gepäckaufbewahrungsmitarbeiter der Bahn vermieteten sie.

Im September 1999 dann schien er am Ziel: Neitzel zog in den Raum im Bahnhof Friedrichstraße. Die Miete belief sich samt Betriebskosten fürs umgebende Center auf 2.000 Euro. Neitzel kam mit der Zahlung von Anfang an in Verzug und findet das nur gerecht: Die Bahn habe nicht wie angekündigt mit Piktogrammen auf die Station verwiesen, der Einbau des S-Bahn-Aufzugs habe vor dem Laden eine Dauerbaustelle verursacht, ihr Tourismusbüro Regiopunkt habe die Bahn schon nach der ersten Saison vom Laden wegverlegt, kurz: Statt eines hellen Marktplatzes, über den 100.000 Reisende pro Tag strömen, verkam das Umfeld zur „Aufenthaltszone für gelangweiltes Wachpersonal“, schreibt Neitzels Anwalt. Die Bahn weist die Forderungen als nicht vereinbart zurück – und pocht auf ausstehende Mietzahlungen, die sich samt Zinsen und Anwaltskosten inzwischen auf über 50.000 Euro summieren.

Vielleicht denken beide einfach unterschiedlich, Stefan Neitzel und die Bahn: Wir sind Partner, so der eine blauäugig – wir sind am Markt, so die andere nüchtern. Letzterer kam Neitzel endgültig 2001 in die Quere: Die Bahn übernahm den Münchner Fahrradverleiher „Call a Bike“, ihr Interesse an privaten Radvermietern in Bahnhöfen schwand naturgemäß. Ein Kooperationsvertrag von Mitte 2002 bis Mitte 2004 konnte letztlich den Interessenkonflikt nicht beilegen: Neitzel stellte einige der Bahn-Räder vor seinen Laden und erklärte den Leuten das Konzept, doch die Bahn-Tochter DB Rent war nicht zufrieden mit dem Partner vor Ort. Laut Bahnsprecher Hartmut Sommer hat es bei der Zusammenarbeit „an Professionalität gefehlt.“

Neitzels Marktgebaren ist unter Experten durchaus umstritten. Allein dass er seine Läden „Fahrradstation“ genannt hat, findet der ADFC-Landesvorsitzende Benno Koch irreführend. „Fahrradstationen sind üblicherweise ein nichtkommerzielles, kommunales Angebot mit dem Hauptangebot Fahrradparken.“ In Nordrhein-Westfalen verleihen die Stationen Mieträder, reparieren Privaträder und bieten an Bahnhöfen bewachten Parkraum – von der rot-grünen Koalition gewollt und gefördert.

Das Konzept einer Fahrradstation hat in Berlin – anders als in einer Stadt wie Münster – aber keinen Sinn, sagt Koch. Dafür gebe es einfach zu viele Bahnhöfe: „Zwar werden an einzelnen der 334 U- und S-Bahnhöfe täglich bis zu 1.000 Fahrräder abgestellt. Aber da sind kostenlose Angebote wie überdachte Fahrradbügel wirtschaftlicher und mit kurzen Wegen für die Fahrgäste zeitsparender.“

Der Unternehmer Neitzel kann sich angesichts der jetzt anstehenden Räumung in Rage reden: „Widerwärtig sei das“, die Bahn habe sie die Immobilie „trockenwohnen“ lassen und übernehme jetzt den Kundenstamm, die gemachte Werbung, kurz: den eingeführten Laden für eine „Call a Bike“-Station. „Das beabsichtigen wir definitiv nicht. In Berlin sind wir aufgestellt“, hält Bahnsprecher Sommer dagegen. Der Raum werde neu ausgeschrieben, auch ein Restaurant könne sich bewerben.

Stefan Neitzel hofft auf einen „wie auch immer gearteten“ Dialog. Falls die Bahn die Summe komplett einfordere, sei fraglich, ob er die Fahrradstationen, in denen 20 Leute arbeiten, weiter betreiben könne. Die Bahn hofft auf eine problemlose Räumung – und kündigt andernfalls „geeignete juristische Schritte“ an.