JENNI ZYLKA über PEST & CHOLERA
: ... und jetzt alle: „Kriiise!“

Meine Digitalkamera braucht dringend eine Party-Einstellung – sonst wird das nichts mehr mit dem Kaffeekränzchen

Auf der teuren neuen digitalen Fotokamera, die ich beim Spazierengehen gefunden und behalten habe (was hätte ich machen sollen? Es waren nur drei verschwommene Fotos von einem hässlichen Auto drauf, und ein an einen Baum gepinnter „Teure neue Digitalkamera gefunden“-Telefonnummer-Abreißzettel hätte auch wieder die Falschen auf den Plan gerufen) –, auf dem komischen Drehknopf oben neben dem Zoom habe ich neulich ein mir unbekanntes Symbol entdeckt. Es sieht aus wie ein rennender Mensch, und ich vermute, es ist eine Art Sportpiktogramm.

Da ich selbstverständlich keine Gebrauchsanleitung besitze, überlege ich nun, was passiert, wenn man die Sportlereinstellung wählt. Ob man damit Zielfotos schießen kann? Ich habe probehalber auf der Stadtautobahn den aufdringlichen Blender fotografiert, der mich bei 80 km/h überholt hat – die schnellsten Männer der Welt rennen schließlich noch schneller, wenn ich mich beim Hochrechnen nicht vertan habe. Aber auf dem Bild erkannte man nur ein verschwommenes Auto.

Jetzt überlege ich, ob die Sportlereinstellung vielleicht aus unsportlichen Fernsehsofakartoffeln durchtrainierte Athleten machen kann und ob ich mit der Kamera zu diesem Zwecke mal ein paar unglückliche befreundete Fernsehsüchtige besuchen sollte. Außerdem plane ich, noch mehr solcher Einstellungen an meiner Kamera anzubringen. Zum Beispiel eine Partyeinstellung, vielleicht gekennzeichnet durch ein süßes kleines Sektglaspiktogramm, die aus einem müden Kaffeekränzchen ein paar hippe Besoffene macht, sodass man später beim Angucken denkt: Oh Mann, ich BIN aber auch immer bei wilden Feiern eingeladen, meine Güte.

In Magazinen sind schließlich auch fast alle Fotos retuschiert. In meinem Lieblingsmodemagazin, das so hirnlos ist, dass es hin und wieder wie eine spaßige Parodie auf Modemagazine wirkt, sieht man manchmal noch beängstigende Reste der Retuschen: Eigentlich war auf dem Foto ein Paar zu sehen, aber weil die tratschhungrige Öffentlichkeit nur die Frau kennt, haben die Teufel mit Photoshop den Körper des Mannes komplett ausradiert, so dass nur eine notdürftig aschgrau übermalte Hand wie aus dem Nichts die Hand der Dame umklammert. Ein eiskaltes Händchen sozusagen. The breath of death. Wenn von mir je ein Foto mit so einer fahlen Todeshand irgendwo auftauchte, würde ich sofort ins Kloster gehen. Aber die Mäuse in den Magazinen, Jeanette Biedermann, Hale Berry und Paris Hilton oder wie sie alle heißen, scheint das nicht weiter zu kümmern. Was zartere Gemüter als mich gleich zu der Annahme führen würde, die hätten ihre Seele eh schon verkauft. Und was damit wiederum ziemlich genau diesen angeblichen alten Indianer-und-andere-Ureinwohner-Glauben widerspiegelt, der einem immer in 60er-Jahre-Dokumentarfilmen hinterhergeworfen wird: dass der kleine Kasten die Seelen der Menschen auffrisst, weil er ein verbotenes Abbild von ihnen produziert.

Das muss an Ostern liegen, dieser düster-spirituelle Gedankenschwung. Auf dem gemütlichen Osterkaffeekränzchen, bei dem ich gestern eingeladen war und über dessen Natur eines gemütlichen Osterkaffeekränzchens ich trotz aller Bemühungen mit meinen Kameraeinstellungen nicht hinwegtäuschen konnte, hatten vier von acht Anwesenden eine Digitalkamera dabei. Wir konnten also eine Dokumentation und drei Making-ofs gleichzeitig machen. Wir sind darüber hinaus kaum noch zum Reden und Kaffeetrinken gekommen, denn immer musste irgendeiner entweder still sitzen, schon fertige Fotos angucken oder „Krise!“ (das neue „Cheese!“) sagen. Eier haben wir auch keine gefunden, weder echte noch mit Knickebein gefüllte. Auf dem Weg nach Hause fand ich aber einen Zettel an meinem Auto und las im ersten Augenblick schuldbewusst: „Haben Sie meine Kamera mit Autofotos drauf gefunden?“ Dann stand da aber doch nur, wie immer: „Wollen Sie Ihr Auto verkaufen?“ Ein Glück. Das andere wäre mir einfach zu gruselig.

Fragen zu Retuschen? kolumne@taz.de MORGEN: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN